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Tagebuch MI
2005-09-23 15:45
Vertrauen verloren
Eines ist mir nun klar geworden, klarer vielleicht, oder wirklich klar: irgendetwas stimmt hier nicht. Irgendetwas stimmt einfach nicht. Das ist der Punkt. Es werden einem andauernd Lösungsvorschläge für die wirtschaftliche Lage, für die Schuldenproblematik, für Sozial-, Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung unterbreitet, Lösungsvorschläge, die sich allesamt sehr ähneln allesamt immer wieder dem gleichen Muster unterliegen. Und ich werde das Gefühl nicht los, daß alle diese Dinge nur an den Symptomen herumdoktern, nicht aber an der Kern der Sache gehen.

Es heißt ja so schön, daß man das Übel mit der Wurzel ausreißen muß. Genau dieser Satz fällt mir ein, wenn ich an all diese Vorschläge denke, die mein Leben zwar jetzt verschlechtern könnten, dafür es aber in Zukunft besser werden lassen, stabiler, sicherer. Was bin ich denn bereit, JETZT hinzunehmen, damit es irgendwann SPÄTER einmal besser ist? Bzw. damit es später nicht zum "Schlimmsten" kommt.

Genau diese Frage stelle ich mir schon seit Jahren. Und seit Jahren wird so weitergemacht. Motto: jetzt für die Zukunft einschränken. Und man denkt sich: na ja, wer weiß. Wenn man in den Neunzigern und frühen Zweitausender vielleicht nicht schon die ersten Reformen eingeleitet hätte, Kündigungsschutz gelockert, "moderate" Lohnerhöhungen, Einschränkung der kassendienstlichen Leistungen, Arzneigebühr, Praxisgebühr (für normalen Arzt UND Zahnarzt versteht sich), Zeitverträge, zeitliche Gesamtbefristungen und vieles mehr, ja, dann wäre es heute vermutlich noch schlechter, als es schon ist: noch marodere Schulen, noch mehr Sozialhilfeempfänger, noch weniger Lehr- und Betreuungspersonal, noch höhere Schulden, noch niedrigeres Wachstum usw.

Die Frage ist nur: wie lange soll das so weitergehen? Wann ist dieses Später, wo irgendwann die Maßnahmen dann doch noch endlich greifen und "alles gut wird"? Wenn man sich ganz einfache Fragen stellt wie: warum nimmt denn trotz aller Gegenmaßnahmen die Arbeitslosigkeit und die privaten und Unternehmenspleiten kontinuierlich zu? Wieso nutzt die Altersteilzeit nichts? Wieso ist die Pflegeversicherung jetzt schon pleite? Wieso gibt es eine Riesterrente mit staatlichen Zuschüssen, wo der Staat doch sowieso nichts zum Zuschießen hat, da ja die gesetztliche Rentenversicherung auch schon leer ist? Und wieso kommt immer noch da Geld hinzu, wo eh schon genug ist (privater Reichtum), und geht da Geld weg, wo es dringend benötigt wird (Schule, Universitäten)?

Ich stelle nur ein paar Fragen. Was man von mir will, das ist Vertrauen. Vertrauen darin, daß andere (Experten) es besser wissen als ich. Die Frage ist nur: wie lange soll ich darauf (noch) vertrauen? Wo sind die Beweise, daß die "Experten" es wirklich besser wissen? (und Experten mögen doch schließlich Beweise). Wieviel Zeit brauchen die Experten noch? Oder muß ich mir doch so langsam Gedanken darüber machen, daß hier vielleicht alles in die falsche Richtung läuft?

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Ich sage mal ganz brutal: es gab mal ein Volk in Europa, das vertraute darauf, daß es nur geduscht wird. Es waren aber keine Duschen. Das mag brachial klingen. Die Sache ist aber die: eigentlich wußten die meisten doch, was auf sie zukommt. Gerüchte haben es in alle Welt getragen, was passiert, bis in den letzten Winkel. Und weiß nicht im Grunde ein jeder Einzelne hier, daß hier was verkehrt läuft? Merkt nicht jeder einzelne hier, daß die Versprechen der Wirtschaftsweisen und Reformer sich in Luft auflösen? Macht nicht ein jeder hier die Erfahrung, daß das Geld, auf das er/sie bereit ist für eine bessere Zukunft aller zu verzichten bzw. es mehr zu zahlen, am Ende einfach nur weg ist, irgendwie bei jemand anderes gelandet, der von den "Umbrüchen" profitiert? Und auch dort bleibt?

Aber man will es nicht glauben. Man will nicht wahrhaben, was nicht wahr sein darf. Man will vertrauen. Ich auch. Ich möchte vertrauen. Ich weiß nur nicht mehr, worauf. Und wie lange noch. Wie lange soll ich mir denn dieses Experimentieren und Aufs-Spiel-setzen von über Jahrzehnten errungenen Fortschritten auf dem Gebiet der Zwischenmenschlichkeit: Solidarität, Vertrauen, Mitmenschlichkeit - noch ansehen? Das geht hier alles den Bach runter und mir wird gesagt, das sei gut so, das müsse so sein, das wäre am Ende für alle das Beste. Dabei ist doch gerade jetzt die Zeit, wo es gebraucht würde.

Aber ich glaube das nicht mehr und habe nun endgültig das Lager gewechselt. Denn ich habe mehr und mehr den Verdacht, daß von alledem, was hier passiert und was sich hier ändert, eine Minderheit profitiert und eine Mehrheit die Zeche dafür bezahlt.

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Auf Grund meiner Herkunft war ich immer tendentiell ein Arbeitgeberwähler, nur lokal habe ich den "Sozis" meine Stimme gegeben, weil die mir in Sachen Umwelt, Verkehr und Soziales kompetenter waren und weil ich diese Dinge im lokalen Bereich wichtig finde. Nur überregional, da dachte ich immer, da muß arbeitgeberfreundlich gehandelt und gewählt werden. Denn ohne Arbeitgeber keine Arbeit, ganz einfach. Ohne Huhn auch kein Ei.

Merkwürdigerweise habe ich aber immer eine gewisse Abscheu vor den echten Vertretern dieser Politik und dieser Wirtschaft gehabt. Vor denen, die meinen, man müsse auch notfalls sonntags bereit sein zu arbeiten, damit der Laden läuft. 40 Stunden seien 20 zu wenig. Die, die vollen Einsatz verlangen, egal ob die Menschen als Mensch von Innen her erodieren, ihre Kinder und Familien vernachlässigen, ihre Hobbies, ihre Freunde.

Was wollen die eigentlich für eine Welt? Sind denn diese Regeln vom Himmel gefallen? Unabänderlich? Geht denn Wirtschaft über alles? Ja, Armut, das ist nicht schön, das will keiner. Aber kann das denn als Argument dafür herhalten, eine komplette Gesellschaft zu entmenschlichen? Ja, ja, man gewöhnt sich daran. Irgendwann fällt es einem gar nicht mehr auf. Menschen arbeiten halt. Was sollen sie auch sonst tagsüber machen? Meine Frau steht jetzt am Ende ihrer Erziehungszeit vor der Entscheidung, sich "arbeitslos" zu melden - mit drei Kindern... Ich kann so eine Welt nicht mehr verstehen.

Mein Vertrauen ist dahin. Ich glaube diesen Menschen nicht mehr. Ich frage mich, was machen denn die Arbeitgeber mit all den Vergünstigungen und all dem Geld, das sie in den letzten Jahren bekommen und erwirtschaftet haben? Sie machen damit alles mögliche, nur schaffen sie keine Arbeitsplätze. Man muß das doch mal sehen. Für mich ist das der eigentliche Offenbarungseid der Arbeitgeber. Ich weiß nicht, wie lange hier noch Firmen und Unternehmen und deren Verantwortliche subventioniert werden sollen, die das Geld der Gemeinschaft dann horten oder vergeigen, anstatt es zu inverstieren.

Ich vertraue nicht mehr auf den "Markt", der, wenn er nur gelassen und nicht drangsaliert würde, schon alles richten werde. Ich lebe in einer Mitnehm-Gesellschaft: "Mitnehmen und Einstecken" lautet das Motto. Was mir einmal gehört, kann mir keiner mehr nehmen. Und so soll die Wirtschaft gesunden? So sollen neuen Arbeitsplätze entstehen? So werden schon irgendwie irgendwann die Schulden zurückgezahlt werden können? Die Versicherungen zu einem Gleichgewicht finden?

Kein Wort mehr glaube ich davon. Etwas läuft hier völlig verkehrt, und da will keiner ran. Es ist ein bißchen so, wie wenn einem andauernd gesagt würde, man solle doch immer schön beim Lotto mitspielen. Da würden schließlich regelmäßig hohe Gewinne ausgeschüttet und alle seien gleichberechtigt. Nur gewinnen dabei nur die allerwenigsten überhaupt etwas und verschwindend wenig den großen Batzen, den alle anderen bezahlen (und glücklich werden sie damit zumeist auch nicht). Und die einzigen, die wirklich verdienen und bequem von dem Wahn profitieren, das sind die Lotteriebetreiber.

Michael

Kommentare


unbekannt
19:54 25.09.2005
Lieber Michael,

auch die Webseite www.flassbeck.de von Heiner Flassbeck (auch kein Dilettant in Sachen Wirtschaft und Gesellschaft, wie die Biographie zeigt) trägt einiges zur Erhellung bei. Als Gleichnis läßt sich sehr gut "Ackermanns Rendite, die Arbeiter und der Staat" lesen (http://www.flassbeck.de/pdf/2005/20.03.2005/ACKERMAN.pdf), dann versteht man, was heute viele Menschen umtreibt.

Es ist einfach wichtig, daß hier mehr Aufklärung betrieben wird. Das Hauptproblem sind offenbar die Medien, wo das inzwischen fast komplett vernachlässigt wird und stattdessen einseitige Propaganda betrieben wird. Ich staune aber inzwischen auch immer mehr, wie viele (ansonsten nicht so unintelligente) Menschen das ungefragt hinnehmen und einfach glauben. Vorher hätte ich auch das einfach abgehakt und gesagt: Nun, die sind eben alle dumm, unbewußt usw. Inzwischen denke ich, man sollte selbst etwas mehr in Richtung alternativer Information tun. Deshalb äußere ich mich mittlerweile aktiver zu so etwas und fordere auch andere, die an an Derartigem innerlichen Anteil nehmen, auf, sich kundig zu machen und das Gefundene weiterzuverbreiten. (Zu denken, das sei ohnehin alles sinnlos und man käme dagegen nicht an, ist sicher nicht sehr förderlich.)

Gruß
GL


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13:03 25.09.2005
Lieber Gerd-Lothar,

ich bin bereits vor einiger Zeit durch deine Webempehlungen auf die 'Nachdenkseiten' aufmerksam geworden und lese dort nun regelmäßig mit. Letzte Woche habe ich mir auch das Buch 'Die Reformlüge' bestellt und lese es gerade. Das wühlt ganz schön was in mir auf. Im Grunde darf das nicht wahr sein, was da drin steht. Denn wenn das wahr ist, dann ist alles andere gelogen. Und danach sieht es tatsächlich aus. Aber andererseits bestätigt es nur einen tiefen Zweifel, den ich immer mit mir herumtrug.

Grüße,
Michael
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unbekannt
11:11 24.09.2005
Lieber Michael,

"Das geht hier alles den Bach runter und mir wird gesagt, das sei gut so, das müsse so sein, das wäre am Ende für alle das Beste."

Warum glaubt man denn, was einem gesagt wird? Was in allen Zeitungen steht (praktisch allen), was überall im Fernsehen verkündet wird?

Es ist äußerst wichtig, sich selbst ein Bild zu machen. Die Zweifel, die Du beschreibst, fangen an sich allmählich bei einigen, die selbst nachdenken, breitzumachen. Die fallen inzwischen nicht mehr auf die "Reform"-Lüge und dieses immer gleiche Geschwätz vom großen Ruck durch "notwendige Reformen", vom "auf die Globalisierung reagieren müssen" herein.

Ich hatte auf meinen Seiten www.webliteratur.de/l_webimweb.htm fürs Nachlesen in den NachDenkSeiten plädiert, weil mir irgendwann - eigentlich viel zu spät! - aufgegangen ist, welches Spiel der Manipulation da mit der großen Mehrheit gespielt wird (angesichts der Wahl kann man wohl sagen: es ist nichtmal mehr die Mehrheit, bzw. diese Mehrheit schwindet).

Da ließe sich wohl noch viel mehr dazu schreiben, aber am wichtigsten ist erstmal: anfangen, selbst nachzudenken, statt bei diesem ach so deutschen "mir wird gesagt, das sei gut so, das müsse so sein, das wäre am Ende für alle das Beste" stehenzubleiben.

Gruß
GL


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unbekannt
20:53 23.09.2005
Hallo Michael!
Und unsere Religion hat über Jahrtausende das Jenseits - das Paradies - als Belohnung für lebenslange Mühen, Sorgen und Plackerei versprochen, damit a la Tetzel das Geld in ihren Kasten springe!!!
Der Kapitalismus hat gut von ihr gelernt - für ein ärmlicheres Jetzt wird uns ein besseres Später versprochen - einzulösen am St.-Nimmerleinstag!!
Aber auch die SPD unter Schröder war ja voll im Griff der Wirtschaft - nach 32 Jahren SPD-Mitgliedschaft habe ich auch hier den Glauben verloren, etwas für eine sozialere Welt zu erreichen!
Ich glaube auf diesem Gebiet auch wie Du nichts und niemanden, obwohl oder weil ich jahrelang Wirtschaftswissenschaften und Politik studiert habe!!


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2005-09-23 15:45