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Tagebuch MI
2005-09-29 09:51
Der Zwang zur Dreistigkeit
Jeder kennt so eine Geschichte: ein irgendwie offiziell aussehender Lieferwagen (Aufschrift etwa: "Electrogroup: Ihr Service-Partner") hält vor irgendeiner Filiale irgendeines großen Kaufhauses. Ein paar mit bunten und aussagekräftigen Arbeitsoveralls bekleidete junge Leute steigen aus, gehen in das Geschäft, räumen aus den Regalen diverse Elektronikartikel aus, bringen sie in ihren Lieferwagen und fahren davon.

Niemand nimmt Anstoß daran, schließlich sieht alles hochoffziell aus, und wenn, dann nur ganz verschüchtert: "Aja, die Elektronikleute. Sind ja auch überall. Hm, "Electrogroup", noch nie davon gehört. Merkwürdig. Aber die Firmen ändern ja eh ständig ihre Namen. Wird schon seine Richtigkeit haben, geht mich eh nichts an. Jemand wird schon wissen, was die hier machen und warum die hier lauter Fernseher raustragen. Vielleicht 'ne Rückholaktion? Weiß nicht, merkwürdig ist es ja schon."

Wie heißt das so schön: Dreistigkeit siegt (so haben es ja auch schon die Schneider beim Kaiser gemacht, der mit den neuen Kleidern). Wenn man irgendetwas tut, das vielleicht ungerecht sein könnte, woran andere Menschen Anstoß nehmen könnten, das vielleicht sogar gesetzeswidrig ist, oder ganz allgemein: wenn man lügt und lügen muß, weil das zum eigenen Leben einfach dazugehört und gar nicht mehr wegzudenken ist, weil das eigene Leben ohne Lügen gar nicht mehr funktionieren kann, weil die Wahrheit zu sagen faktisch das Ende wäre, dann muß man es dreist tun.

Man darf dann nicht lange herumfackeln und beim Publikum Argwohn erzeugen. Es muß alles völlig normal und selbstverständlich aussehen, so, daß wirklich niemand auf die Idee kommen kann, daß an dem, was da vor den eigenen Augen geschieht, irgendwas faul sein könnte. Denn wenn das Publikum erst einmal Lunte gerochen hat ("Der Kaiser hat ja gar keine Kleider an!"), dann wird es immer schwieriger, das Gebäude noch weiter aufrecht zu erhalten (weshalb man dann auch immer dreister werden muß).

Daher: nicht auf Diskussionen einlassen, klarstellen, wer hier das Sagen hat und auf lästige Fragen gelassen und überlegen reagieren (Etwa: "Wer ist denn eigentlich die Electrogroup?" - "Wie, das wissen Sie nicht? Wer sind Sie denn? Ich will sofort den Geschäftsführer sprechen. Was für ein Saftladen hier. Und jetzt machen Sie Platz, ich hab nicht ewig Zeit für sinnlose Debatten").

Solche Geschichten geschehen tatsächlich. Ich kann mich an eine Sache aus meiner Jugendzeit erinnern, da hat so eine Truppe einen halben Laden leergeräumt. Man darf es eben nicht heimlich tun, sondern man muß es vor den Augen aller tun. Man muß ganz offensichtlich lügen, dann kann einem praktisch nichts passieren.

Genau an so eine Geschichte mußte ich auch gestern Abend denken, als ich Bilder von Politikern aller Couleur bei der großen http://www.nachdenkseiten.de/cms/front_content.php?client=1&lang=1&parent=2&idcat=5&idart=884? Was machen die denn da? Verträgt sich das denn mit demokratischen Prinzipien? Wieso lädt Bertelsmann überhaupt ganz ungeniert Politiker ein, und wieso kommen die dann auch noch, selbst PDS.Linkspartei-Repräsentanten?" (namentlich der hiesige Wirtschaftssenator Harald Wolf)

Und da kam mir dieses Bild von einer Gruppe von Menschen, die ganz ungeniert in einen Laden gehen und dort vor den Augen aller herausholen, was sie haben wollen und dann wieder verschwinden. Und keiner hat's gemerkt. Das mag hier jetzt vielleicht nett und unterhaltsam erzählt sein, aber es war ganz genau so. Wobei der Unterschied zu der Geschichte und dieses Partyagglomerats wohl der ist, daß nicht klar ist, wer da nun von wem profitiert. Klar ist nur, auf wessen Kosten das geht. Demokratieförderlich kommt mir das jedenfalls nicht vor.

Michael

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