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Tagebuch MI
2005-09-01 17:31
Mittendrin
Viele, viele Eindrücke habe ich zu verarbeiten. Ich muß sagen, mein Leben ist sehr reichhaltig, geworden. Es ist mir in mancherlei Hinsicht oft sogar zuviel. Jeder Teilbereich meines Lebens ist im Grunde auch nicht viel, nur alles zusammengenommen reicht locker für zwei Leben.

Und so rauscht eine Woche nach der anderen dahin und ich frage mich zwar einerseits, was in all dieser Zeit eigentlich alles stattgefunden hat, weiß andererseits aber auch, daß tatsächlich immer etwas stattgefunden hat und praktisch keine Minute des Tages verschenkt ist, und sei es, daß ich die 15 Minuten S-Bahn auf dem Heimweg für ein Nickerchen nutze. Ich muß mich da ausruhen, denn kaum zu Hause geht es weiter. Die Kinder wollen schließlich auch noch was von mir haben.

Leben im Turbogang, war eigentlich nie meine Art, doch jetzt ist es so. Und ich komme damit gut zurecht. Und komme zwar wenig, aber ich komme auch zu meinem Recht, das da heißt: Musik. Singen. Klavier.

Im Grunde bräuchte ich mich an allem anderen überhaupt nicht zu stören. Alle Katatrophen kenne ich nur als Schriftdokument, als Reportage über etwas, das mein eigentliches Leben überhaupt nicht berührt. Wann bin ich an der Reihe? Vielleicht morgen, vielleicht nie. Ich weiß es nicht und kann es nicht wissen. Ich lebe ein völlig freies Leben, trotz aller Einschränkungen, trotz aller Pflichten und Auflagen, ich bin glücklich trotz schlimmer Nachrichten (ich meine auch und besonders lokale wie zuletzt ein Kindesmord in einem der "besseren" Berliner Bezirke). Tatsächlich gibt es nicht viel, daß ich anders haben wollte und was nicht gleich vermessen wäre.

Also? Wo ist dann das Problem? Ja, es klingt vielleicht merkwürdig, aber außer den üblichen Sorgen uns Fragen, die ich schon solange mit mir herumtrage, daß ich sie bald gar nicht mehr merke, gibt es keine Probleme in meinem Leben. Nicht einmal dieser Nachbarschaftsstreit über meine Klaviermusik und die störenden Kinder ist ein Problem für mich. Dann spiele ich halt sonntags nicht mehr. Dann ist das halt so mit den Kindern. Fertig. Weiter.

Weiter womit? Mit Leben. Ich habe zu tun, ich habe Dinge in Gang gebracht und am Laufen, die mich beanspruchen, ich habe so etwas wie eine Aufgabe. Das tut gut. Ich habe das immer unterschätzt, wie wichtig das ist, daß man eine Aufgabe hat, eine Aufgabe, der man sich hingeben kann. Ich mag sehr Menschen, die sich einer Aufgabe hingeben und das auch können.

Ich glaube, daß sich erst hierin ein Leben erfüllt und daß erst auf diese Weise jede Selbstquälerei zu einem Ende kommt. Plötzlich hören die Fragen nach einem Sinn auf. Wieso soll denn das Leben überhaupt einen Sinn haben?, fragt man sich da. Diese Frage selbst ist es, die keinen Sinn macht. Leben muß überhaupt nicht sinnvoll sein. Sobald ein Leben der Bezeichnung "Leben" erst einmal gerecht geworden ist, wenn es also wirklich ein Leben ist, dann ist das bereits der Sinn.

Ich stelle sogar fest, daß immer wenn der "Sinn" also Motivation für eine Tätigkeit bemüht wird, gerade dann der eigentliche Sinn verfehlt wird. "Sinn" wird dann nur aus Ermangelung der Erkenntnis des eigentlichen Sinnes herangeführt, aus Ermangelung der Antwort auf die eigene Lebensfrage. Natürlich macht es Sinn, auf irgendeine Art und Weise Geld zu verdienen, irgendein trockenes Studium mit Perspektive auf sich zu nehmen oder ganz viele Zusatzqualifikationen zu erwerben. Die Frage ist nur, ob ich das auch wirklich will. Wenn ich es nicht will, aus dem Innersten nicht will, dann macht es eben keinen Sinn, dann ist "Sinn" nur vorgeschoben und dient als ein Ausweichmanöver vor der Frage, die sich mir tatsächlich stellt: was will ich eigentlich?

Ich fühle mich ein bißchen wie in einer Sammelphase, Zeit zum Auswerten habe ich nicht, und oftmals fehlt mir auch ein gesunder Abstand zu den Dingen, ich stehe eben nicht außen vor, sondern bin mittendrin. So sammele ich und archiviere und ordne, so gut es geht und wie es mir die Zeit zuläßt, und gebe mich ansonsten dem Lauf des Lebens hin. Fast werde ich leichtsinnig mit dem Auswerten und frage mich: wozu noch auswerten? Wozu noch eine Meinung über all das bilden? Das Leben ist gut, ist schlecht, ist ungerecht, ist großzügig, ist erbärmlich, ist großartig, ist armselig, ist reichhaltig. Es ist irgendwie alles das. Ich kann mir auch nichts davon aussuchen, es kommt mal so und mal so. Und nur, weil ich es mal an jenem Tage oder in jenem Moment als erbärmlich erlebe (und manchmal fällt mir einfach kein passenderes Wort ein), heißt das nicht, daß ich Leben am nächsten Tag oder im nächsten Moment nicht wieder als großartig und überaus reichhaltig empfinde.

Damit hört alles auf, alles Streben, etwas zu verbessern, zu verändern. Es gibt nichts zu verbessern. Das einzige, was man wirklich tun kann und immer wieder von neuem tun kann, ist sich den Aufgaben, die sich einem stellen, voll und ganz hinzugeben, ohne dabei auf das Resultat zu schielen. Mehr kann man nicht tun. Das genügt auch vollauf, um zu Glück und Zufriedenheit zu gelangen. Es ist nicht die Belohnung, die glücklich macht, und auch nicht die Aussicht darauf, sondern es ist die Tat selbst, die die Belohnung in sich trägt.

Michael

Kommentare


unbekannt
18:21 02.09.2005
" Am Anfang .. die Tat" ist aber auch wirklich nicht ungefährlich; s. Bush "erstmal den Irak angreifen und Saddam stürzen, den Rest sehen wir später".
Tatmenschen sind nicht immerdue guten Weltverbesserer, sie gehören eher zur "schlimmen" Sorte ( Cäsar, Napoleon, Hitler, Stalin u.a.) Insofern ist das Faustische mir, seit ich mehr nachdenke, suspekt geworden -- weil ich vermute, dass es auch mir zum Verhängnis geworden ist!
LLG


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17:52 02.09.2005
Hallo Claudius, irgendwie bist Du einfach ein netter Kerl Ich habe ja immer so eine Angst herumschwirren, daß mir jemand kommt und mich auseinandernimmt, wenn ich mich auf dieses Terrain begebe (ist gar nicht so schlecht). Aber andererseits kommt es genau so aus mir heraus und dann ist das eben so.
Genau diese Fauststelle mit 'Im Anfang war die Tat', die Du ansprichst, hat mich sofort fasziniert. Ganz schön vermessen, der Knabe, die Bibel einfach anders zu übersetzen (zu interpretieren), die Tat vor das Wort zu stellen und damit Welt auf den Kopf. Ein paar Jahre früher wäre er damit wohl auf dem Scheiterhaufen geendet statt als 'Polarstern der Poeten'.
Grüße, Michael
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unbekannt
11:14 02.09.2005
Aus dem "Orientalischen" kommt als Lebenssinn "panta rei" - alles fliesst - oder, wie Faust bei der Bibelüberstzung feststellt:" Am Anfang war ....... (letztlich) die Tat! Du gehörst mit diesem Eintrag zu den Philosophen, die Sein und Vergehen als Lebenssinn definieren! Auf jeden Fall gut geschrieben! Hut ab!
VLG


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