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Tagebuch MI
2005-08-14 19:27
Kinder sind Lehrer
Ich mache in diesen Tagen die für mich immer noch eher seltene Erfahrung des Satzes: "Ist der Ruf erst mal ruiniert, lebt's sich gänzlich ungeniert". Ich kann an den Lebensgewohnheiten meiner Kinder nichts ändern, kann nicht verhindern, daß sie auch sonntags früh aufwachen und herumlaufen. Wodurch sie offenbar den Boden so in Schwingung bringen, daß oben die Nachbarn davon aufwachen. Ich kann nichts dafür, daß meine Nachbarn ihr Schlafzimmer über unserem Kinderzimmer haben. Ich kann auch nichts dafür, daß die Schwingungen offensichtlich so stark durch den Boden übertragen werden und ich kann auch nichts für die offensichtliche Schwingungssensitivität meiner Nachbarn. Ich kann nur akzeptieren: es gibt Menschen, die ich mit meiner Familie in ihrer Lebensqualität beeinträchtige.

Ich wollte das nie. Kinder sollen den Menschen Freude machen, sie nicht stören. Aber was für ein absurdes Gedankengebäude! Es stimmt ja gar nicht. Kinder sollen, ja MÜSSEN die Menschen stören (das ist jetzt keine Rechtfertigung gg. meine Nachbarn: keiner muß sonntags wegen Kindern vor sieben Uhr aufwachen, das ist schon klar). Was gibt es denn sonst noch, was an den Menschen rüttelt, ihre Lebensweise in Frage stellt, sie zum Anhalten - im wahrsten Wortsinne - zwingt, zum Innehalten, zum Besinnen, aber auch zur Aktivität, zum Engagement, zum Planen und gestalten?

Das eigentliche Geschenk, das ein Kind in seinen Armen hält, das ist: "Ich stelle dein Leben auf den Kopf". Kinder sind Wecker und Aufrüttler. Sie zwingen mich aus meiner Lethargie, sie treiben mich sonntags morgens aus dem Haus, manchmal in aller Frühe - und öffnen mir die Augen und die Ohren für eine Stadt, die noch schläft, für eine Entenfamilie, die ihre Köpfe noch im Federkleid hat, für ein Rotkehlchen, dessen Gesang sonst im Alltagslärm untergeht.

Sie zwingen mich zu Dingen, die ich sonst nicht tun würde und ermöglichen mir so Einsichten, die ich sonst nicht bekäme. Sie zwingen mich dazu, mich und mein Leben in die Waagschale zu werfen. Sie nehmen mir etwas weg und lassen mich die Erfahrung machen, daß dann nicht einfach etwas weg ist, sondern daß ich es dadurch erst habe: "Du kannst nur haben, was Du auch geben kannst". So lehren und erleichtern sie mir das Loslassen. Ich kann nach und nach in den Hintergrund treten um anderen Menschen den Weg freizumachen. Und entdecke mit diesem Zurücknehmen mich selbst erst. Loslassen ist nicht Aufgeben!

Dennoch ist es kein Tun, keine Freiwilligkeit, eher eine Notwendigkeit. Ein ganz normaler Gang des Lebens. Kinder schulen einen im Loslassen, das ist wohl der zentrale Punkt, der in der öffentlichen Diskussion eigentlich nie eine Rolle spielt. Da geht es nur um künftige Rentenzahler, wobei immer vorausgesetzt wird, daß die Kinder auch alle eine Arbeit bekommen. Der Fortbestand der Gesellschaft soll gewährleistet sein, so heißt es immer. Doch der eigentliche Sinn und Zweck von Kindern ist ein ganz anderer. Im Grunde einer, den die Gesellschaft gar nicht wollen kann, der aber um so besser für sie ist.

Michael


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2005-08-14 19:27