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Tagebuch MI
2005-09-22 13:44
Unliebsame Stellen
Die morgendliche Routine ist bei mir: aufstehen, frühstücken, duschen, anziehen und dann mit meinem älteren Sohn aus dem Haus, ich begleite ihn meist noch zur Schule, auch wenn er den Weg schon alleine laufen kann. Er hat es immer noch gerne, wenn ich mit ihm aus dem Haus gehe. Und das ist auch schön für mich. - Danach gehe ich zur Arbeit.

Heute morgen habe ich diese Routine unterbrochen. Statt mit meinem Sohn aus dem Haus und zur Arbeit zu gehen, bin ich zu Hause geblieben. Wenn der älteste weg ist, hat man das Gefühl, als fehlte die halbe Familie, so viel Dynamik bringt der mit sich.

Nach einer halben Stunde hat schließlich auch E. mit unserem jüngerem Sohn und unserer Tochter die Wohnung verlassen und so war ich allein dort. Meine Nachbarn von oben habe ich auch nicht mehr gehört (man kann normalerweise das Laufen über die Holzdielen gut hören), und so hatte ich freie Bahn für ein paar Minuten ungestörtes Musizieren am frühen Morgen.

Morgens zu musizieren hat eine ganz andere Qualität, als nachmittags oder abends. Ich bin da viel wacher, bin auch viel mehr bereit, - endlich - auch unliebsame Stellen in Angriff zu nehmen. Eine dieser Stellen findet sich in der letzten der Zwölf Variationen über "Ah, vous dirai-je, Maman" für Klavier von W. A. Mozart (ein französisches Volkslied mit der Melodie von "Morgen kommt der Weihnachtsmann"). Ich weiß nicht, wie lange ich diese Variationen nun schon immer mal wieder vor mich herspiele. Jedes Jahr wenn der Herbst den Winter und somit die Weihnachtszeit ankündigt, hole ich mir die Noten hervor und mache dort weiter, wo ich vor einem Jahr aufgehört habe.

Auf diese Weise habe ich zwar stetig kleine Fortschritte gemacht, weil ich mir viele Stellen spielerisch ohne intensives Üben aneignen kann. Aber es gibt nach wie vor diese Stellen, die ohne stures Üben nicht zu bewältigen sind. Speziell die letzte Variation bietet einige dieser Stellen und ich habe dort bisher immer nur drüber hinweg gespielt.

Für dieses Jahr habe ich mich zum "Generalangriff" entschlossen. Ich will diese zwölf Variationen nicht einfach nur ein bißchen vom Blatt spielen können und notfalls dort, wo ich es nicht kann, irgendwie drüber hinwegspielen. Sondern ich will sie wirklich spielen können: ohne Notenblatt und entsprechend meinen Möglichkeiten ohne (gravierende) Fehler. Und "spielen können" heißt bei Mozart: man muß einiges können, damit es sich einfach und spielerisch anhört.

Ich finde speziell diese Variationen eine Offenbarung. Denn wirklich klingen tun sie erst, wenn man sie auch wirklich spielen kann. Die Spieltechnik muß so weit ausgereift sein, daß man beim Hören (und Spielen) gar nicht mehr merkt, was für eine Technik eigentlich dahintersteckt. Das Spielen darf nicht die geringste Mühe bereiten, das ist das Geheimnis. Was natürlich allgemein für alle Musik gilt, für mich aber bei Mozart ganz besonders.

Nur: damit das Spielen keine Mühe (mehr) bereitet, muß ich mich erst einmal bemühen und diese ungeliebten Stellen üben. Jahrelang drüber hinweggespielt, immer wieder drüberhergestolpert. Heute morgen hat es mir dann gelangt. Hand für Hand habe ich geübt, 16tel-Läufe rauf und runter. Solange, bis es klappte, bis es "drin" war, besonders diese Stelle, bei der ich seit Jahren herumstolpere. Es wird noch etwas dauern, bis sich das setzt, das ist immer so. Aber ich habe nun das Gefühl, endlich an den Kern der Sache herangegangen zu sein. Und vielleicht klappt es ja dann im Dezember mit der Aufführung bei der Adventsfeier der Schulklasse meines Sohnes. Vorgenommen habe ich es mir jedenfalls. -

Ich war schließlich gegen viertel nach zehn an meinem Arbeitsplatz. Dies mit einer großen und unzerstörbaren inneren Zufriedenheit. - Wie das halt so ist, wenn man sich an unliebsame Stellen in seinem Leben gemacht hat, die man sonst immer nur vor sich hergeschoben hat.

Michael

Kommentare


unbekannt
16:32 22.09.2005
Relativ spät in meinem Leben habe ich begonnen, unliebsame Ecken "aufzuräumen", aber wenn etwas "geglättet sauber "geworden ist, gehts mir wie Dir! Herrlich zufrieden ist man dann, weil man den "inneren Schweinehund" überwunden hat!
LG


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