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Tagebuch MI
2005-09-05 17:05
Grenzen setzen und verteidigen
Ich muß wirklich gut auf mich aufpassen. Ich weiß nicht genau, wieso, aber ich habe die Eigen- oder Unart, Arbeit auf mich zu ziehen. Andere Menschen drehen in aller Ruhe ihre Kurven, während bei mir der Tag fast komplett ausgebucht ist. Nur ab und zu habe ich mal ein paar Minuten, wo einfach mal nichts ist (und immer noch eine Mittagspause mit anschließender Kaffeerunde, an die ich hartnäckig nichts heranlasse).

Ich glaube, es ist immer noch überschaubar, vielleicht ist es auch so, daß ich einfach ausprobieren will, wieviel Belastung ich standhalten kann. Es ist wirklich sehr schwierig, das richtige Maß zu finden. Das Gefühl, prinzipiell zu wenig zu tun, und daß das, was ich tue, nie gut genug ist, ist ja sowieso omnipräsent.

Und so läuft das anscheinend bei mir darauf hinaus, daß ich einen subjektiven Mangel an Qualität mit Quantität auszugleichen versuche. Ich habe keine exzellenten Forschungsergebnisse und viel zu wenig eigene Publikationen? Macht nichts, schließlich habe ich ja auch noch das Schülerlabor und bin da sehr gut. Ich habe nicht genug Zeit für das Schülerlabor? Macht nichts, schließlich bin ich auch noch in der Forschung tätig. Und so weiter.

Ich muß zugeben, daß es mir manchmal lieber wäre, ich wäre auf einem bestimmten Gebiet spitze und unanfechtbar. Dann würde ich einfach nur das machen und ausbauen und müßte nicht ständig diese (inneren) Rechtfertigungsorgien über mich ergehen lassen. Hinter all dem steckt ein uralter Mangel an Selbstvertrauen, Stabilität und Orientierung. Alles das, was ich versuche, meinen Kindern jetzt schon mit auf den Weg zu geben, damit sie es nicht unter beruflicher Belastung später erst zusätzlich noch lernen müssen, alles das fehlte mir von Beginn meines Berufsleben an, ich habe es einfach nicht mitbekommen, wußte nicht einmal, was das überhaupt ist. Und es ist so unendlich mühsam, sich das alles nachträglich anzueignen. Allerdings auch ohne Alternative, was es wiederum einfacher macht.

Zu beneiden, wenn sich jemand zu wehren weiß. Dieses "Nein" in einer brenzligen Situation, das ist so schwer. Heute war wieder so eine. Mein Instrumentkollege, der mir wissenschaftlich zwar weit voraus ist, aber letzen Endes nicht mein Vorgesetzter ist, gibt gerne Anweisungen, geht dann und möchte bei seiner Rückkehr Resultate sehen. - Aber sorry, das ist mit mir nicht mehr zu machen. Ich habe meine eigenen Ideen, meine eigenen Projekte (endlich!). Und wenn er Ideen hat und große Projekte, dann soll er sich - genau wie ich das auch tue - bitte selbst darum kümmern.

Warum muß ich ihm das sagen? Warum kommt er da nicht von selbst drauf? Ich weiß es nicht. Da er es aber offenbar auch nicht weiß, wo seine Grenze ist und wo meine ist, und ich mir nun auch tatsächlich gar nicht mehr leisten kann, Leute über diese Grenze zu lassen, muß ich mich da zur Wehr setzen. Lieber wäre es mir, er würde diese Grenze von selbst sehen, er würde sehen und spüren: hier hat mein Kollege offenbar seine Grenze, ab hier macht er nicht mehr mit.

Aber er hat eine ganz andere Strategie. Er beachtet Grenzen erst dann, wenn sein Gegenüber ihn explizit (und notfalls wiederholt) darauf hinweist. Will sagen: er definiert Grenze als genau den Punkt, wo sein Gegenüber anfängt sich zu wehren. Das berühmte Teufelchen, das "Mephistopheles" auf die Erde gesandt hat (tatsächlich fallen mir immer öfter solche Faust-Szenen ein), damit die Menschen nicht einschlafen. Unbequem, aber lehrreich.

Jetzt ist es bei mir so, daß ich mich immer erst viel zu SPÄT zur Wehr setze. Ich lasse die Leute immer auf mein Territorium, denke mir: "Na, der wird schon wissen, daß er sich hier auf meinem Gebiet aufhält, da wird er wohl nichts Schlimmes anstellen". Doch dann fängt da plötzlich einer an, einen Baum zu pflanzen oder einen Zaun zu ziehen, oder holt andere Menschen auf mein Gebiet, macht es sich dort bequem, richtet sich ein, kommt und geht, wie es ihm gefällt. Und hat plötzlich sein Territorium auf meine Kosten vergrößert.

Und wenn es erst einmal soweit gekommen ist, ist es fast schon zu spät, die Dinge wieder rückgängig zu machen. Zarte Hinweise darauf, daß dies ja eigentlich mein Territorium ist, werden nicht beachtet, es gilt das Recht der Tat. Für brachiale Hinweise wiederum gibt es nur sehr selten einen geeigneten Moment.

Tatsächlich aber war heute so ein Moment. Mein Kollege hatte die Idee, von einem Standardbuch in der Strukturforschung die aktuelle Ausgabe aus den USA zu bestellen. Das sagte er mir im Flur so im Vorbeigehen (das habe ich besonders gern), und sein Blick roch danach, mir das als Auftrag zu erteilen. Das, wo ich gerade mit dem neuen Kollegen im Bunde (den ich anlerne, nicht er) aus der Experimentierhalle komme und ich mich dort ausgiebigst um das Instrument gekümmert habe, für das offziell er hauptverantwortlich ist.

Papierkrams, den macht er nicht gern, weiß ich. Und Zeit dafür hat er auch nicht. - Ich aber auch nicht! Und nein, ich bin nicht sein Sektretär, so läuft das nicht bei mir. Hier wird brüderlich geteilt, die Ehre und die Pflicht. Und nicht: einer hat die Ideen, der andere macht die Arbeit. Wehren, Michael, wehren! Nichts anbrennen lassen, niemanden bei dir sich einnisten lassen, Grenzen ziehen! "Good idea", kommt es aus mir heraus, "order it!" - Da staunte er nicht schlecht.

Da war sie, die Grenze, und ich habe sie verteidigt. Sakrisch schwer, aber ich muß das lernen und auch durchhalten. Das wird sicher so weiter gehen. Allüberall.

Michael

Kommentare


unbekannt
13:13 06.09.2005
Du lernst gerade eine Grundlektion des Lebens: das Nein-Sagen.
Fiel mir auch lange Zeit schwer. Mittlerweile kommt kaum noch jemand auf die Idee, mir unangenehme Arbeiten aufhalsen zu wollen.

Ein irischer Kollege erlebte es während eines 3tägigen Workshops gleich zweimal, dass einer der Organistoren ihm im Vorübergehen (die Flur-Situation) unliebsame Aufgaben aufdrückte und sich dann vom Acker machte. Der Kollege war sauer und hat getobt wie ein Derwisch. Nach dem zweiten mal machte ich mit ihm eine kleine Sprachübung: "No! No! No!"

Andererseits: Die Kunst des Deligierens gehört zu den wichtigsten Führungsqualifikationen...

Gruß
Ralf


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unbekannt
07:58 06.09.2005
Andere in ihre Grenzen verweisen ist schwer - wer wüsste das nicht besser als ich! Auch ich habe die Arbeit anderer an gezogen wie der Pflaumenkuchen die Wespen! Die Folgen waren aber "verheerend" für mich!
Du tust also gut, wenn Du Dein Verhalten hier überdacht hast und es ändern wirst!
Viel Erfolg dabei wünsche ich Dir!
LG


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