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Tagebuch pitoresk
2008-04-26 11:51
die Angst beherrscht mich niemals mehr
Was wirklich typisch für Menschen sein könnte ist, dass sie es selten fertigbringen eine positive Lebenssituation zu genießen. Überhaupt: ich wähle seit längerem meine Lebensabschnittspartnerinnen nicht mehr nach Aussehen oder materiellen Einkünften, Intelligenz oder anhand beeindruckender körperlicher Merkmale aus, sondern nach ihrer Genussfähigkeit. Mit Leuten, die nicht genießen können, umgebe ich mich nur noch sehr ungerne.

Und dabei war meine Jugendzeit geprägt durch Angst. Ich habe andere Leute aufgrund ihres Selbstbewusstsein bewundert. Und erst spät wurde mir klar, dass Bewunderung eigentlich nichts anderes ist als die Angst davor es selbst zu machen. Ich hatte sehr viele Jahre Angst vor dem anderen Geschlecht. Ja, wenn nur eine Frau mit im Raum war, war ich schon doppelt so verklemmt wie vorher. Bis ich dann im höheren Alter kapiert habe: wir sind doch alle nur Menschen. Und es kommt gar nicht darauf an, die sensationellste Figur zu machen oder den witzigsten Satz des Abends zu formulieren. Es kommt darauf an, ganz man selbst zu sein, locker zu bleiben und echt. Die Angst ist der größte Killer um eine authentische Außendarstellung hinzubekommen.

Später im Berufsleben habe ich mit erschrecken festgestellt, dass gerade die Menschen am intensivsten über Geld nachdenken, die eigentlich genug Geld besitzen. Während einem also eigentlich ein gutes finanzielles Polster frei machen sollte, tritt bei vielen Menschen genau das Gegenteil ein. Sie leiden unter massiven Ängsten zu verarmen. Ich hatte bisher wirklich kaum mit einem reichen Menschen zu tun, der nicht Angst davor hatte, dass es ihm mal schlechter gehen könnte. Und vor lauter Zukunftsangst fehlt diesen Menschen die Fähigkeit, ihr schickes Auto, ihren hübschen Pullover, das leckere Essen oder das harmonische Miteinander zu genießen. Und es ist genau diese Genussunfähigkeit die wohlhabende Leute so unausstehlich machen kann.

Das zu analysieren fällt mir leicht, schließlich wurde ich im Alter von 20 Jahren nach einem Selbstmordversuch in eine psychogene Klinik eingeliefert. Ich hatte Angst. Vor anderen Menschen, vor dem Leben generell und auch vor mir selbst. In dieser Klinik gab es unter anderem die Pflichtveranstaltung Gruppentherapie. Der Psychologe setze sich bei einer dieser Sitzungen zu Beginn zur Gruppe und sagte nichts. Zehn Minuten saßen wir alle schweigend da. Und ich dachte: gleich wird er dich fragen, warum du nichts gesagt hast. Ich legte mir ein paar passende Worte zurecht.

Warum haben Sie nichts gesagt, fragte mich der Gefühlsexperte in der Runde tatsächlich als Erster. Ich antworte: nun, es gibt ein konzentriertes und ein gelangweiltes Schweigen. Ich habe mich bei ihrem Experiment gelangweilt, wollte es jedoch keineswegs beenden.

Interessant war, was die anderen Patienten sagten. Die magersüchtige Frau sagte, sie habe genau gespürt wie alle hier im Raum auf ihren dicken Bauch geglotzt hätten (dabei war sie spindeldürr und hatte überhaupt keinen Bauch und wirklich niemand schaute ihr auf den Bauch). Eine andere Frau äußerte Hassgefühle gegenüber dem Psychologen, weil er uns in diese unangenehme Situation gebracht hat. Aber wirklich interessant war, was wir daraus lernten: selbst wenn objektiv nichts passiert, es gibt zwischen Menschen keine Neutralität. Es sind vielleicht nicht immer die ganz großen Gefühle wie Liebe oder Hass, aber irgendwas ist immer. Deswegen ist es die unsinnigste Position, die man im Leben einnehmen kann die, nicht auffallen zu wollen, keinen falschen Eindruck zu hinterlassen und Angst zu haben. Man hinterlässt immer einen Eindruck und der bildet sich gerade nicht aufgrund des objektiven Geschehens, sondern aufgrund der unterschiedlichen Charakters des Menschen, der die Szene beobachtet oder der mit einem spricht. Dies hat nicht nur mit einem selbst zu tun, ich kann dann, was ein anderer über mich denkt, immer nur sehr bedingt beeinflussen.

Und so lernt man so noncholante, also quasi ganz nebenbei, wie wenig sinnvoll eine angstvolle Haltung im Leben ist. Was andere Menschen über mich denken, kann ich nicht wirklich beeinflussen. Deswegen sollte ich mich anderen gegenüber respektvoll verhalten, aber nicht mein Wohl und Wehe davon abhängig machen, was andere über mich denken.

Es ist völlig falsch, sein Leben seinen Ängsten unterzuordnen. Ich will mein Leben nach meinen Interessen austarieren. Falls ich noch nicht weiß, was ich wirklich will, muss ich eben etwas probieren, um herauszufinden, ob es mir liegt. Die Angst vor dem Neuen hilft mir dabei, mich nicht in Lebensgefahr zu begeben oder einen entscheidenen Fehler zu machen, den ich bereuen könnte. Ansonsten ist die Angst kein guter Partner fürs Leben.

Wie oft habe ich, als ehrenamtlicher Mitarbeiter im Sterbehospiz, von den sterbenden Menschen gehört, ich wollte immer dies oder jenes machen und habe mich nicht getraut, die Umstände ließen es nicht zu und, und, und .... Aber man sollte es probieren. Kann ja sein, dass man sich immer denkt, fliegen ist toll. Dann geht man fliegen, es wird einem furchtbar schlecht und man weiß nun sicher: fliegen ist doch nichts für mich. Aber man muss es probieren, wenn der das der Lebenswunsch ist. Das machen ganz viele Leute Zeit ihres Lebens falsch und bereuen dann am Ende des Lebens, dass sie die Chance ihren eigenen Interessen zu folgen nicht genutzt haben. Deswegen ist es so wichtig, genießen zu können: die ersten Sonnenstrahlen, das Lächeln der Freundin, wenn sie einen sieht. oder einfach das Leben, weil man genügend Geld besitzt, um in den Urlaub zu fahren oder sonstwas zu machen, worauf man gerade Lust hast.

Und die Angst davor, etwas Neues zu probieren, zu überwinden. Am Ende des Lebens weiß man: ich muss nicht alles probiert haben, ich muss nicht reich gewesen sein, ich muss nicht mit tausend Frauen im Bett gewesen sein, aber das, was mich zeitlebens interessiert hat, dass muss ich ausprobiert haben, da muss ich meine Ängste überwunden haben. Dann kann man friedlich sterben. Mehr war in dieser Welt nämlich nicht zu schaffen, als den Kampf gegen die eigenen schlechten Gedanken zu gewinnen und sich selbst ein guter Freund zu sein.

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Kommentare


unbekannt
10:34 27.04.2008
woran machst du fest, wie genussfähig ein mensch ist?

deine gedanken gefallen mir und ich stimme zu.
wobei ich auch sagen möchte, es ist manchmal sehr schwer, angst zu überwinden und das zu tun, was ich möchte...aber in den meisten fällen lohnt es sich...nein, es lohnt sich immer, denn ich werde zumindest um erfahrung und erkenntnis in JEDEM fall reicher.


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01:14 27.04.2008
gut geschrieben.
Good luck!
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unbekannt
16:12 26.04.2008
Also,ich muss echt sagen,die gednaken die du aufgeschrieben hast,entsprechen den meinen,nur in anderen worten.
WOW


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14:59 26.04.2008
sehr interessante Gedanken. sich selbst ein guter Freund zu sein ist schon länger eine meiner täglichen Aufgaben im Leben
sehr weise.
was bringt einen Menschen dazu, ehrenamtlich in einem Hospiz zu arbeiten?
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unbekannt
13:12 26.04.2008
ich möchte mich Deinen Gedanken über die Angst kommentarlos anschließen ... es ist der Fokus, den man hat ... und meiner ist inzwischen ebenfalls auf den Unterhaltungswert eines Menschen oder einer Situation ausgerichtet ... wobei der Unterhaltungswert bei mir schwerpunktmäßig in der Reflexion an sich liegt ...

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