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Tagebuch MI
2006-03-16 17:13
Selbstbetrug

Ich muß mir außerdem eingestehen, daß ich nach wie vor dazu neige, mich selbst zu betrügen. Ich mache das wirklich sehr gerne. Das fängt schon damit an, daß ich es nicht schaffe, mich von den mainstream-Medien zu lösen. Immer mal wieder muß ich gucken, ob es etwas Neues in der Welt gibt, ob es beispielsweise da "unten" im Iran endlich losgeht, damit diese Spannung aufhört, so entsetzlich ich den Gedanken auch finde.

Ich will immer, daß irgendetwas passiert. Warum eigentlich? Weil ich denke, daß dies gar nicht mein Leben ist. Mein Leben, das ist ein ganz anderes. Nämlich so, wie ich mir das immer vorgestellt hatte. Dabei handelt es sich gar nicht einmal um Wunschvorstellungen, sondern vielmehr - und das ist mir erst in der letzten Zeit stark bewußt geworden - bin ich gesteuert von Wiedergutmachungsdrang.

Das, was zu Hause in meiner Kindheit geschehen ist, das kann ich zwar nicht rückgängig machen. Aber ich habe irgend soeinen unauslöschlichen Drang, das wiedergutzumachen. Soll heißen: Nun bin ich der Vater. Und ich mache jetzt auch alles das, was mein Vater richtig gemacht hat, und lasse alles das weg, was er falsch gemacht hat. Dazu muß ich nur erst mal auch das schaffen, was mein Vater "richtig gemacht hat" (gemeint ist: Eigentum, Geld), allein daran scheitere ich schon. Und wenn ich mich damit tröste, "wenigstens" nicht sein Falsches zu wiederholen, befriedigt mich das nicht.

Ich frage mich gar nicht, ob ich das überhaupt will, ob das der Vorstellung von meinem eigenen Leben entspricht. Sondern es geht nur darum, irgendetwas Unwiederbringliches zurückzuholen und irgendetwas Nichterlebtes nachträglich als Erwachsener doch noch zu erleben. So, als wäre ich nicht heile, als wäre da noch etwas, das es zu erleben und zu erledigen gilt. Leider ist das alles ein großer Selbstbetrug, und vor allem zwinge ich mich dadurch zu einem Leben, das ich weder führen kann noch will.

Beispielsweise bin ich der geborene Mieter und hege ein großes Unwohlsein gegenüber jeder Form von Eigentum. Je weniger ich habe, desto freier und wohler fühle ich mich. Zur Miete zu leben ist im Grunde Luxus. Für alles das, worum ich einfach keine Lust habe mich zu kümmern, bezahle ich jemanden, der das für mich macht. Im Grunde ein gutes Geschäft und für mich die ideale Lebensform, die mir viel Zeit für mein Leben läßt.

Nicht auszudenken, ich käme nach Hause, und dann stünden erst einmal massig Reparaturarbeiten, Gartenarbeiten, Säuberungsarbeiten an. Es ist nicht so, daß ich das nicht gerne täte. Nur gibt es viele Dinge, die ich viel lieber tue. Wenn ich nach Hause komme, setze ich mich zum Beispiel erst einmal ans Klavier. Und zum Lesen habe ich schon so zu wenig Zeit.

Und überhaupt ist so eine Altbauwohnung definitiv meine bevorzugte Wohnform. Allein klimatisch sind diese Wohnungen nahezu perfekt: Im Winter nicht zu kalt und im Sommer nicht zu warm. Und immer gute Atemluft. Außerdem die Geschichte. Ich mag die Gedanken an die vielen Menschen, die vorher in meiner Wohnung gelebt haben.

Wenn ich das weiß und das für mich festgestellt habe: warum quäle ich mich dann mit dem Gedanken, es müsse anders sein? Warum lasse ich mich von Sorgen zermürben, ich müsse sicherheitshalber doch Eigentum anstreben?

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Der Selbstbetrug geht weiter und läßt sich alles in allem mit folgenden Sätzen beschreiben: Dies ist eigentlich gar nicht mein Leben. Mein Leben ist eigentlich ein anderes. Aber das macht nichts, denn ich habe noch genug Zeit, dieses - mein eigentliches - Leben zu erreichen. Und dies geschieht entweder durch meine Willenskraft oder durch irgendwelche Ereignisse, die ich jetzt aber noch nicht absehen kann.

Ich kann nicht leugnen, daß dieser Gedanke nicht über meinem Leben hängen würde. Und er hinterläßt mich mit dem Gefühl, daß ich anscheinend andauernd Kompromisse machen muß. Ich merke zwar mehr und mehr, daß sich mein Leben - ich meine das tatsächliche - immer mehr "verselbstständigt" und mein Einfluss darauf immer weiter abnimmt, trotzdem kann ich den Gedanken nicht loslassen, daß am "Ende" (wann und was immer das sein soll) doch noch alles so ist, wie ich es mir immer gedacht und vorgestellt hatte.

Die große Frage, ob ich darin überhaupt mein Glück finde, scheint keine Rolle zu spielen. Es geht hier nicht um Glück, sondern um Wiedergutmachung. Und dazu muß alles so sein, wie früher, nur anders.

Ich würde zum Beispiel auch gerne viel mehr Geld haben, um damit die Rente meiner Mutter aufzubessern (und mein Gewissen damit zu entlasten). Obwohl ich eigentlich auch denke - und weiß: diese Frau hat über 10 Jahre monatlich soviel Geld für sich alleine gehabt, wie ich für meine fünfköpfige Familie. Wenn sie meinte, das alles ausgeben zu müssen, statt zurückzulegen, dann ist die natürliche Konsequenz, daß sie es nun nicht hat, wo es ihr wirklich gut tun würde. Es wäre also gar nicht gut, wenn ich viel Geld hätte, das würde meine Mutter nur um diesen Lerneffekt betrügen.

Vieles - und wer weiß schon, WIE vieles? - von dem, was ich denke, wie alles sein sollte, wäre gar nicht so gut. Grund genug eigentlich, den alten Ballast über Bord zu werfen und einfach zu akzeptieren, daß dies - und nichts anderes - mein Leben ist. Trotzdem ist das schwerer, als man denkt. Warum? Weil es mich stört und kränkt, daß ich offenbar nicht in der Lage bin, mir alles so einzurichten, wie ich es will. Es stört den Denker, den Macher, den Visionisten.

Es stört den, der meint, sich absetzen zu können von dem Einheitsbrei der Durschnittsexistenzen. Der meint, den Mächtigen dieser Welt Paroli bieten zu können, den Revoluzzer, den Weltverbesserer. Es wurmt ihn, nur irgendeine schnöde Existenz von 80 Millionen weiteren hier in diesem Land der Lügen und des Irrsinnns zu sein (mal ganz zu schweigen von globalen Dimensionen) und daran einfach nichts ändern zu können. Und manchmal kommen so finstere Gedanken, wie der, daß dann halt ruhig "etwas passieren" könne, das diese doch eh nicht lebenswerte und so unwürdige Existenz in einem Schlag auslöscht. Dann ist der Spuk vorrüber.

Das ist auch so ein schöner Selbstbetrug. Denn so einfach macht es einem das Leben natürlich nicht. So schnell ist das nicht totzukriegen.

Michael

Kommentare

17:36 16.03.2006
hallo, schöner text wieder !
und alles - ausser dem thema wiedergutmachung - wiedergefunden...
froher mieter. und das leben so verbringen, als bereite man sich nur auf eines vor, als läge, "das eigentliche leben" nur irgendwo, warte darauf,
von mir hervorgeholt und gelebt zu werden - während die zeit verrinnt...
Soll der Kommentar wirklich gelöscht werden?
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2006-03-16 17:13