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Tagebuch MI
2006-03-14 15:41
'Was ist, wenn ich keinen Bock habe?'

Ich las mal den Satz: "Für dich kleinen Menschen ist die Welt noch so groß. Du ahnst ja nicht, wie klein die Welt werden wird, wenn Du größer wirst." Wenn ich etwas höre, von dem ich fühle, daß es im Tiefsten wahr ist, rastet bei mir etwas ein. Ich fühle mich unmittelbar an mein eigenes Erleben erinnert. Ja, was ist die Welt klein geworden. Nicht nur räumlich, auch zeitlich.

Räumlich wird alles immer enger, zeitlicher wird alles immer kürzer. Früher, als ich noch klein war und die Welt groß, da konnte ich ziemlich risikolos an vielen Rädchen schrauben, Hebel umlegen, Schalter ein- und ausschalten, und konnte in einer gewissen geschützten Atmosphäre beobachten, was dabei passierte. Es hatte oft keine unmittelbaren Auswirkungen auf mich oder mein Leben, was natürlich den Nachteil mit sich brachte, daß ich mich reichlich unwichtig fühlte.

Aber es war gut und muß für die kleinen Menschen so sein, sie müssen experimentieren dürfen, ohne daß sich ein negativ verlaufendes Experiment auch gleich entsprechend negativ auf ihr Leben auswirkt. So stehen viele Wege offen, man kann hier und da mal was probieren, muß sich nicht festlegen - noch nicht. Die "hard facts" spielen noch keine so große Rolle, es müssen noch keine Meilensteine für den Lebenslauf gehoben werden, es sieht alles so leicht aus.

Irgendwann schlägt das um, und was man als Kind noch spielerisch erlebt hat - und sei es auch nur in einem Monopoly-Spiel - wird plötzlich bitterer Ernst: Hattest Du einen guten Start (Elternhaus, gesunde finanzielle Basis, gute Schule)? Hast Du dir gleich ein paar gute Straßen angeln können (gute, schnelle und maximale Ausbildung, gelungener Berufseinstieg, "eine gute Partie" geheiratet, Erbschaft)?

Anfangsvorteile haben die Eigenschaft, sich zu potenzieren. Es ist ähnlich wie beim Schach. Wer da einmal im Vorteil ist, hat alles in der Hand. Und so wird alles das, was ich in jungen Jahren noch so unwichtig fand, immer wichtiger. Und selbst (und irgendwann gerade) die Feinheiten spielen eine immer größere Rolle. Es genügt dann z. B. nicht mehr, nur englisch sprechen zu können. Man muß es auch gut sprechen können, und schreiben versteht sich.

-

Heute ist es so, daß mir vieles Experimentelle verloren gegangen ist, was ich bedauere und wo ich nach Kräften gegenlenke. Ich bin zum Beispiel ausgesprochen allergisch auf sogenannte "to-do"-Listen. Das hat für mich schon etwas krankhaftes. Und führt dazu, daß Leute irgendwann nur noch für ihre "to-do"-Listen leben. Sie können auch keine Gesprächsrunde ohne diese Liste führen. Und die Runde kann auch nicht beendet werden, eh nicht der letzte Punkt abgehakt ist.

Über Alfred Nobel las ich, daß ihm lange Sitzungen (und Sitzungen überhaupt) zuwider waren und er daher auch so gut wie nie daran teilnahm. Er führte zur Steuerung seines Dynamit-Imperiums briefliche Korrespondenzen, das mußte genügen. Auch gab er so viel Verantwortung wie möglich ab. Er sagte: "...Denn wenn man in großen Geschäften alles selbst tun will, ist die Folge, daß man alles vernachlässigt". Mir ist das sympatisch, man muß die Dinge auch mal laufen lassen können, "Fünfe gerade sein" lassen können - solange (damit?) das Gesamtbild stimmt.

Ich mache mir auch immer wieder diese Listen. Ich mache das als Gedächtnisstütze, denn es gibt immer wieder diese Kleinigkeiten, die ich gerne vergesse. Dennoch: was bedeutet das denn, wenn ich etwas vergesse? Bedeutet das, daß ich vergeßlich bin oder werde? Oder bedeutet das nicht viel mehr, daß sich andere Dinge in den Vordergrund geschoben haben, die offensichtlich eine höhere Priorität genießen?

-

Was sind das für andere Dinge? Das muß doch hinterfragt werden. Wenn es mir wirklich um mich geht, um ein erfülltes Dasein, um Sinn, dann nützt es doch nichts, mit diesen ganzen abzuarbeitenden "to-do"-Listen im Zaume zu halten, worauf meine eigentliche Wahl fallen würde, wenn ich mich frei entscheiden könnte!

Auf meiner "to-do"-Liste (die ja gedanklich sowieso immer irgendwie da ist) steht vielleicht, daß ich jetzt als nächstes dies oder das erledigen... muß. Und danach muß ich wieder etwas anderes machen, und wieder. Bis die Liste abgearbeitet ist - und sie sich von neuem füllen kann versteht sich.

Das Ergebnis: ich habe andauernd irgend etwas getan, nur weil ich es machen muß, weil es auf so einer komischen Liste drauf steht. Und was habe ich nicht gemacht? Das, was ich eigentlich getan hätte, wenn mich nicht diese komische "to-do"-Liste davon abgehalten hätte. Und prompt beginnt die "Sinnlosigkeit des Lebens" an mir zu nagen.

Vielleicht hätte ich ja lieber etwas geschrieben, hätte lieber einen Spaziergang gemacht. Oder hätte lieber ein Experiment durchgeführt, oder, oder. Es geht in dem Moment ja nicht darum, ob etwas nun "den meisten Sinn" macht, sondern nur darum, ob ich es gerade tun will. In diesem Sinne muß das Wort "Sinn" ohnehin neu beleuchtet werden. Dem Verstande mag das sinnvoll erscheinen, wenn ich so eine Liste abarbeite. Dem Herzen ist aber diese Liste ganz egal.

"Was? Das alles habe ich mir vorgenommen und muß ich nun umsetzen? Muß? Ich muß gar nichts, ich bin frei wie ein Vogel" (und bereit für die sich daraus ergebenden Konsequenzen). Eine befreundete Mutter antwortete mal in einem Telefongespräch - auf die Anfrage meiner Partnerin nach einer Beteiligung an einem Schulfest - folgendermaßen: "Und was ist, wenn ich keinen Bock habe?" - Das ist heute bei uns ein geflügeltes Wort. Und ich schwanke angesichts dieser patzigen Gegenfrage zwischen spätpubertär und auch irgendwie ehrlich. Ja, warum soll man sich das nicht ab und an mal fragen: "Und was ist, wenn ich keinen Bock habe?"

Was ist, wenn ich keine Lust habe, eine blöde Liste von Dingen abzuarbeiten, die mein Verstand gestern vielleicht noch unheimlich sinnvoll fand, mit der ich heute aber nicht viel anfangen kann? Das Herz sagt: "Dann mach halt was anderes. Mach doch das, woran Du gerade 'Bock' hast!"

Und tatsächlich liegt doch genau darin der Sinn, der Sinn dieses ganzen Lebens: in jedem Moment das zu tun, woran ich gerade "Bock" habe, zu tun, was sich gerade anbietet, was aus meinem Inneren aufsteigt und irgendwie zum Ausdruck kommen will (ich rede hier nicht von der Spaßgesellschaft, ich denke, das ist klar): einer alten Fragestellung nachgehen, etwas Schreiben, jemanden anrufen, was immer. Und was ich in diesen Momenten feststelle ist, daß ich nicht mehr ankämpfe gegen eine (letztlich selbsterzeugte) Wand, sondern daß ich mich einfach dem Fluß hingebe.

Und dann klappt auch alles: die Menschen reagieren freundlich und entgegenkommend, so, als hätten sie schon lange auf die Begegnung mit mir gewartet. Das kann oftmals sehr überraschend sein. Das ganze Leben kann sich schließlich herausstellen, als hätte es nur auf mich gewartet. Und jede Frage nach einem Sinn erübrigt sich.

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Daher will ich mir das Spielerische bewahren, auch wenn es immer enger wird, auch wenn alles immer schneller geht, die Abstände immer kürzer werden, Raum und Zeit sich auf merkwürdige Art und Weise verdichten und ich nicht mehr so frei und ungezwungen mit meinem Leben experimentieren kann, wie das früher einmal war. Wenn ich heute einen Hebel umlege, eine Schraube verstelle, einen Taster drücke, gibt es "Instant Karma": Rückwirkung auf mein Leben sofort.

Jeder Vorteil, den ich meine, mir verschafft zu haben, jede Verbesserung, führt immer auch irgendeinen Nachteil im Schlepptau, irgend etwas, von dem ich bis dahin vielleicht noch gar nicht wußte, daß es einer sein könnte. Und umgekehrt. Jedoch brauche ich diese Freiheit, aus dem festgefügtem Programm auch mal komplett ausbrechen zu können. Und alle, die mit mir zu tun haben, sollten das am besten so früh wie möglich wissen und das einplanen. Und es ist in diesem Sinne durchaus hilfreich, wenn man seinen "Ruf" dabei beizeiten ruiniert.

Ich bewahre mir das. Ich nehme es mir heraus, "to-do"-Listen wegzuräumen und mich statt dessen zu fragen: "Wonach ist mir jetzt gerade?" Und das "muß" ich dann tun. Und es ist dann egal, ob das noch irgend etwas mit meiner Liste zu tun hat. Es ist auch egal, ob sich dadurch nun mein Leben möglicherweise in eine ganz neue Richtung bewegt.

Es ist eine generelle Entscheidung, die jeder zu treffen hat: ist mein Leben ein bloßes Abarbeiten einer "to-do"-Liste, oder ist mein Leben eine vielleicht zunächst scheinbar unlogische Aneinanderreihung von Handlungssträngen, die aber in ihrer Gesamtheit schließlich einen Sinn ergeben?

Wobei letzteres überhaupt keine Rolle spielt, weil Sinn auch immer nur "instant" ist, also sofort erfahrbar - nämlich genau in dem Moment, in dem ich etwas tue, was mir aus dem Innersten kommt. Oder gar nicht.

Michael

Kommentare


unbekannt
13:48 15.03.2006
Feine Beobachtungen.

http://vicenta.twoday.net/


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20:20 14.03.2006
Liebe Simsalabim,
danke schön für deinen netten Kommentar. Deine Anmerkungen hier sind nie sinnlos. Ich freue mich immer darüber.
Grüße, Michael
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unbekannt
16:13 14.03.2006
Lieber Michael!
In den letzten Einträgen hinterfragst du sehr vieles und suchst nicht nur nach neuen, sondern nach deinen Wegen. Das gefällt mir (und eben deshalb auch jetzt meine kleine, vielleicht sinnlose Anmerkung). Mir gefällt die Selbstreflexion und die mit ihr einhergehende Konsequenz. Das ist keine Selbstverständlichkeit. An die Stelle der Fragezeichen treten Ausrufezeichen;Aussagen.
Nun werde ich deine Zeilen ein zweites Mal lesen, sie sind sehr aufschlussreich -auch für das eigene Leben.

Liebe Grüße
Simsalabim


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