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Tagebuch MI
2006-03-23 17:15
Falscher Trost (1)

Mir wird gerade wieder klar, das Religion und jede Beschäftigung mit einem "höheren Sinn", "höheren Prinzipien" usw. nichts anderes ist als eine geordnet angetretene Flucht vor der Realität, will sagen, vor dem was ist, vor den Tatsachen und letztlich vor mir selbst.

Dieser Gedanke kommt mir, weil bei mir ein plötzliches Interesse an der Bibel ausgebrochen ist. Daran ist nichts verwerfliches, aber ich muß es auch ganz nüchtern ansehen können, woher dieser Interesse kommt.

Es ist schon recht merkwürdig, ich fange an, mich für all diese abstrusen Geschichten über die Schöpfung zu interessieren, wie Gott den Adam machte und die Eva und wie sie vom Baum der Erkenntnis essen, Gut und Böse voneinander unterscheiden lernen und somit aus dem Paradies vertrieben werden.

Mich interessieren diese ganzen Stammesgeschichten, die ganzen wüsten Sachen des Alten Testaments von Noahs Arche bis zu Moses Gesetzestafel. Plötzlich möchte ich das alles wissen, möchte wissen, wie das alles zu Stande gekommen ist. Irgendjemand muß es schließlich mal aufgeschrieben haben. Warum hat er/sie es aufgeschrieben? Warum so, warum nicht anders?

Es ist die gleiche Frage wie die nach Jesus. Historisch ist die Person praktisch bis heute nicht belegt, nur an wenigen Stellen konnte bei Historikern der Name "Christus" gefunden werden. Dieser wäre gekreuzigt worden.

Ansonsten ist der überwiegende Teil aus dem Leben dieses "Jesus Christus" ein unbeschriebenes Blatt Papier. Die Geburt ist wohlumschrieben, dann geht es aber direkt in sein zwölftes Lebensjahr, als er seine Eltern verläßt, um bei "seinem Vater" im Tempel zu sein, wo er die Schriftgelehrten mit seiner Weisheit beeindruckt. Und dann geht es schon direkt in seine Dreißiger Jahre, einige Wundergeschichten, schließlich die Passion.

Und das alles wurde etwa drei Generationen später erst von Evangelisten aufgeschrieben, deren historische Spur sich ebenfalls im Sande verläuft. Keine Zeitzeugenberichte, keine Hinterlassenschaften, keine Spuren.

Eigentlich müßte man sagen: das ist alles hanebüchener Unsinn. Was ich dann aber nicht verstehe: wie kann ein hanebüchener Unsinn die Welt dermaßen beeinflussen? Wie kann er ganze Kontinente "christianisieren" (verunsinnen?)? Ich denke dann, daß damals irgendetwas sehr Ungewöhnliches geschehen sein muß. Weil ich mir nicht vorstellen kann, daß die Fantasie des Menschen und seine Anfälligkeit für religiöse Lockrufe in seinen Auswirkungen soweit gehen können, wie es mit der christlichen Heilslehre geschehen ist. - Aber vielleicht kann sie ja?

Und bald ist ja auch schon wieder Ostern, und das wird dann hier "gefeiert". Und im Grunde weiß keiner so recht, wieso.

-

Gut, das alles interessiert mich und ich versuche, dem auf den Grunde zu gehen. Es hat mich schon immer interessiert. Nun scheint aber so eine Art "zweite Phase" angebrochen zu sein. Ich möchte es noch einmal wissen. Ich möchte es verstehen. Aber ich merke auch, daß ich bei meiner Suche nicht nur von Neugierde und Wissensdrang geleitet bin, sondern durchaus auch von einer gewissen Hoffnung auf Trost.

Etwas soll mich darüber hinwegtrösten, daß die Welt halt so ist, wie sie ist. Es soll mich darüber hinwegtrösten, daß ich sie nicht verstehen kann. Wo kommt der Mensch her, wo kommt dieses Bewußtsein her, Mensch zu sein? Warum habe ich das, aber ein Tier nicht (oder hat es das?)? Eigentlich "habe" ich ja gar kein Bewußtsein, das ist ja schon verkehrt. Eher hat das Bewußtsein mich.

Warum teile ich alles unwillkürlich in "gut" und "böse", in "gut" und "schlecht" ein? Warum IST alles nicht einfach nur? Warum begrenze ich mich selbst, indem ich mein eigenes Handeln den Kriterien von "gut" und "böse" und "gut" und "schlecht" unterwerfe? Und wo kommen diese Kriterien überhaupt her? Warum kann ich nicht einfach sein, wie und was ich bin? Warum ist das so schwierig?

Ich verstehe: ich habe vom Baum der Erkenntnis gegessen, und deswegen bin ich nicht mehr im Paradies, das Paradies meiner Kindheit, als alles einfach WAR, und nicht so oder so war. Heute möcht ich auch, daß alles einfach ist, aber irgendwie ist nichts.

Außerdem schmeckt mir nicht, was ist. Ich habe viele Veränderungswünsche. Doch die scheinen utopisch zu sein und scheitern nicht zuletzt an meinen eigenen zwanghaften Vorstellungen darüber, wie ich nicht sein darf und was ich nicht machen darf. Warum ist es so schwierig Dinge zu tun, von denen ich denke, daß ich sie eigentlich nicht machen darf? Weil ich Angst vor den Folgen habe, deswegen wohl.

-

Ich hoffe (und befürchte gleichzeitig), daß sich die Kraft und die Energie, die bei diesem Lebensstil akkumuliert werden, schließlich von selbst Bahn brechen. Und tatsächlich passiert mir das. Es ist dann nie ein absichtlicher Verstoß gegen meine mir selbst auferlegten Verhaltensregeln, sondern es geschieht dann, weil es nicht nicht geschehen kann. Es geschieht, obwohl es gegen das anläuft, von dem ich denke, wie ich sein sollte (nett, höflich, kontrolliert).

Das sind dann die eigentlichen Befreiungsenergien, die alte Strukturen aufbrechen und meinen Charakterpanzer durchlöchern. Und dann habe ich das Gefühl, nackt zu sein: jeder kann jetzt sehen, wie es in mir aussieht, es liegt alles offen zu Tage. Und ich neige dann zur Scham. Ich denke - und das werde ich wohl nie los werden - das da "Innen drin", das ist etwas "Schlechtes", etwas "Sündhaftes", etwas zu kontrollierendes Unkontrollierbares.

Ich denke dann auch, ich habe mich soeben selbst erhöht. Und das darf ich auf keinen Fall (Selbsterniedrigung ist dagegen kein Problem...).

Doch es ist genauso wie mit großen gesellschaftlichen Umbrüchen: entweder sie geschehen halbwegs kontrolliert, indem dem sich aufstauenden Druck jeweils unmittelbar nachgegeben, nachgegangen wird (das wäre eine echte funktionierende Gesellschaft), oder der Deckel fliegt knallig vom Topf und der Druck sucht sich schlagartig seinen (meist weniger schönen) Weg.

(http://www.diary-z.de/diaryview.php?diaryid=8236&textid=242120&from_home=&akt_monat=03&akt_jahr=2006)

Kommentare

13:18 24.03.2006
Stimmt.
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unbekannt
13:11 24.03.2006
Was soll's, Du hast halt Lust auf eine tiefgreifende Geschichte. Mehr ist es nicht. Und auch nicht weniger.

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2006-03-23 17:15