Wenn der Moment kommt...


"Gegen zwei rufe ich dich morgen an", sagte er mir gestern.
Aber um zwei klingelt kein Telefon, auch nicht zwei Stunden später. Nicht nach vier. Jede Minute, die ohne ein Telefonklingeln, ein SMS Piepsen vergeht, bestätigt meine Ahnung. Er ist ein zuverlässiger Mensch, ich bedeute ihm etwas, er würde mich nicht derart versetzten. Ich traue mich nicht bei ihm anzurufen, ich traue mich nicht ihm eine SMS zu schreiben. Möchte ihn nicht stören, nicht zum reden zwingen, es muss schrecklich sein.
Ich denke an ihn und zum ersten Mal ist mir völlig klar, wie viel er mir bedeutet, wie wichtig er mir geworden ist. Meine anfänglichen Zweifel sind vergangen, ich weiß jetzt was ich will.
Um sieben piepst mein Handy, ich stehe gerade im Badezimmer vor dem Spiegel, flechte meine Haare. Ich zucke zusammen, als der laute Ton durch den Raum hallt.
Er ruft mich heute nicht mehr an. Seine Mutter ist heute Vormittag verstorben.
Ich kannte sie nicht und dennoch schnürt es mir in diesem Moment die Kehle zu, ich setze mich auf den Boden, die Badewanne in meinem Rücken. Eine Träne, die über meine Wange rollt. Tränen für eine Frau, die ich nie gekannt habe, niemals kennen lernen werde. Tränen für einen Mann, der mir so viel bedeutet und jetzt so entsetzlich leidet. Tränen, um Stefan, weil die Erinnerung wieder derart lebendig wurde.
Jetzt sitze ich hier, vor meinem Computer, morgen in der Früh muss ich arbeiten. Mir graust davor, den ganzen Tag, so viele Stunden ein fröhliches Gesicht aufzusetzen, zu lächeln. Ich denke an Manuel und ich denke an uns. Vor kurzem haben wir noch darüber geredet, dass dieses Jahr so gut beginnt, so schön, weil wir uns beide haben. Jetzt ist es zu einem Trauerjahr geworden.
Ich drehe die Musik laut, etwas trauriges, dramatisches, dass zu diesem Moment zu passen scheint.