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Wednesday, 24. April 2024
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Tagebuch staunistauni
 1975-09-14 hh:mm
Immer weiter...immer weiter...


Anfang Juli war es dann soweit. Helmut brachte seine Frau in eine Klinik bei Berlin. Nun musste er mit den beiden Jungs allein zurecht kommen.

Elvira war alles nur noch egal. Sie dachte nur noch an sich und ihren Zustand und setzte ihre letzte Hoffnung in diese Therapie. Mit vier weiteren Patientinnen wurde sie in einem äußerst kargen und unfreundlichen Zimmer untergebracht. So hatte sie sich Gefängniszellen vorgestellt. Auf dem Zimmer gab es ein Waschbecken, die Toilette war auf dem Flur. Das Wichtigste aber war das Bett, wenn es auch ein Militärbett war. Das war momentan der sicherste Ort für Elvira. Ihre Therapiegruppe bestand aus fünf Frauen und drei Männern, alles Menschen, die aus irgendwelchen Gründen mit dem Alltag nicht mehr zu recht kamen. Später stellte sich heraus, dass mindestens die Hälfte der Gruppe hier war, weil sie mit der menschenverachtenden Politik nicht klar kamen. Fast alle waren aus Berufsgruppen, die tagtäglich stark mit der Politik in Berührung kamen. So war da u.a. eine Lehrerin, eine Polizistin, zwei Armeeangehörige und ein engagierter Schauspieler.

Zu Beginn der Therapie mussten alle ihre Medikamente abgeben und es gab von heute auf morgen keine einzige Tablette mehr. Elvira glaubte das nicht zu überstehen.

Nach einer schrecklichen Woche ging sie zum Arzt und bat um eine einzige Schlaftablette. Er sagte ihr: „Hätten Sie, wie Sie sagen, die ganze Woche nicht geschlafen, dann stünden Sie jetzt nicht vor mir.“

Aus lauter Wut und Hilflosigkeit schlief sie in der folgenden Nacht tief und fest und auch die nächsten Nächte verliefen so einigermaßen.

Die Gruppe wurde von der ersten Stunde an so stark beschäftigt, dass nicht mal Zeit für einen Brief nach Hause war. Das war von der Klinik so gewollt. Für die Zeit der Therapie sollte der Kontakt zur Familie auf ein Minimum beschränkt werden. Die Patienten sollten vom Mitleid und Mitfühlen der Angehörigen abgeschirmt werden.

Als erstes bekamen alle die Aufgabe während der therapiefreien Zeit einen Lebensbericht zu schreiben. Für Elvira war das eine gute Aufgabe. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie Zeit für sich selbst. Während des Schreibens kam sie endlich mal dazu über alles Vergangene nachzudenken. Oftmals konnte sie nicht weiterschreiben, weil sie von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Bis zum Abschluss des Berichtes flossen noch viele Tränen, aber es kam auch zu vielen Erkenntnissen. Die täglichen Therapiestunden waren sehr interessant und abwechslungsreich gestaltet. Mit ihrem scharfen Verstand, der durch ihr derzeitiges Befinden durchaus nicht gelitten hatte, begriff sie sofort die Hintergründe und den Sinn der Therapien. Sie begriff langsam wieder wer sie war und was sie konnte. In der Musikstunde bewies der talentierte Therapeut allen Patienten, wie verklemmt sie eigentlich waren und versuchte dort mit der Behandlung anzusetzen.

In der Kunsttherapie staunte Elvira über sich selbst. Sie hatte noch gar nicht gewusst, wozu sie beim Gestalten fähig war. Beim Volleyballspielen festigten sich die verlorengegangen Bewegungen wieder. Am interessantesten fand Elvira verschiedene themengebundenen Spiele. Nie vergaß sie in ihrem weiteren Leben die Übung: „Überwinden einer Mauer“. Die ganze Gruppe bildete eine imaginäre Mauer. Elvira musste versuchen durch diese zu kommen. Sie suchte sich die schwächsten Glieder aus und wollte mit Anlauf die“ Wand“ durchbrechen. Es gelang ihr nicht. Immer wieder versuchte sie es an der gleichen Stelle. Das Ergebnis war gleich Null. Alle hielten ihre Arme so fest zusammen, dass Elvira keine Chance hatte. „Das ist ja gar nicht möglich!“ resignierte sie.

Wie wäre es, Du würdest einen anderen Weg wählen und zum Beispiel um die Mauer herumgehen? Um etwas zu erreichen, gibt es viele Wege.“ beendete die Therapeutin diese Übung.

Ganz bedeutsam war auch ein Spiel, in welchem man einen Satz, den man vom Therapeuten zugeordnet bekam, ohne zu sprechen darstellen sollte. Die anderen mussten raten, wie der Satz Wort für Wort lautet.

Elvira bekam den Satz vorgegeben:

Wer sich selbst verlässt, i s t v e r l a s s e n !“

Sie überlegte kurz und fand eine Ausdrucksmöglichkeit und der Satz wurde erraten.

Lange dachte sie über diese Worte nach und begriff schnell, warum ausgerechnet sie diesen Satz darstellen sollte.

Die Therapie war dermaßen anstrengend und interessant, dass die meisten der Patienten abends in ihre Stahlbetten fielen und seit Wochen wieder ohne Medikamente durchschliefen.

Sonntag ist therapiefrei! Besprecht Euch bis zur nächsten Stunde, was Ihr unternehmen wollt!“

Jetzt brach für Elvira die Welt zusammen. „Ich kann aber nicht mitgehen!“ rief sie als sich bei diesem schönen Hochsommerwetter alle fürs Baden entschieden hatten. „Ich schaffe es von hier aus nicht einmal die dreißig Meter bis zum Ausgangstor“. Elvira war ja seit Wochen nicht mehr ohne ihren Mann unterwegs gewesen.

Doch die Therapeutin blieb hart. „Entweder es gehen alle oder alle bleiben wegen dir hier!“

Dazu war natürlich keiner bereit und so musste Elvira mit den stockfremden Menschen in völlig unbekannter Gegend einfach mit. Unter fließenden Tränen bewegte sie sich irgendwie weiter. Die anderen anzusprechen, damit die sie stützen sollten, traute sie sich einfach nicht.

Es war der reinste Horror. Mindestens drei Kilometer musste die Gruppe erst mal zur S-Bahn laufen. Die Füße liefen zwar, aber das Gehirn realisierte das nicht. Es war ihr zumute, als ginge sie gar nicht selbst. Elvira meinte, den Marsch nicht zu überleben, aber es ging weiter, immer weiter. Diese Worte murmelte sie dann pausenlos während des ganzen Weges:

immer weiter,........ immer weiter, ..........immer weiter,.......immer weiter,.........“

Am S-Bahnhof angekommen, traute sie sich plötzlich schon allein in einen Laden und kaufte sich ein neues Portemonnaie. Darüber war sie sehr glücklich, das wollte sie heute gleich ihrem Helmut am Telefon berichten.

Voller Unruhe verbrachte sie mit den anderen ein paar Stunden im Freibad. Der Rückweg ging dann schon wesentlich besser, allerdings war Elvira schrecklich unruhig und fahrig.

Nach vier Wochen durften alle Patienten das erste Mal nach Hause fahren.

Elvira freute sich riesig auf ihre Familie, aber da war der lange Fußweg zur S-Bahn und die lange Eisenbahnfahrt bis Dresden.

Ausnahmsweise, weil sie so gute Fortschritte machte, erlaubte ihr die Therapeutin sich auf der Heimfahrt einem Mitpatienten aus Dresden anzuschließen.

Völlig aufgekratzt kam sie nach Hause. Um sich wieder als Persönlichkeit zu fühlen, hatte sie sich eine neue Frisur zugelegt (sämtliche Haare in 2cm Länge) und trug nach der neuesten Mode eine superweite rostbraune Cordhose. Aus lauter Nervosität hatte sie sich das Rauchen angewöhnt.

Helmut erkannte seine biedere Frau nicht wieder. Er war allerdings glücklich, sie nicht mehr depressiv zu sehen und hielt das Ganze für eine Übergangsphase, die es dann auch war.

Die beiden Jungs sahen eigentlich frisch und munter aus, sie waren in dieser Zeit im Ferienlager gewesen. Die restliche Zeit hatte Helmut sich um sie gekümmert.

Elvira war glücklich alle wiederzusehen und wusste aber, dass sie noch die nächsten vier Wochen brauchen würde um wieder voll einsatzfähig zu sein.

Bei Helmut hatte sich die ganze Aufregung seit dem „Rausschmiss“ nicht auf den Geist sondern auf die Nieren gelegt. Er hatte die letzten Wochen starke Beschwerden gehabt, bis sich dann ein stark gezackter Nierenstein durch die Harnleiterröhre gekämpft hatte.

Da sich Elvira noch nicht traute wieder allein zurück nach Berlin zu fahren, begleitete sie ihr Mann. Während Elvira in den restlichen Wochen weitere große Fortschritte bei der Therapie machte, wusste sie ihren Helmut und die Kinder gut aufgehoben. Ihr Bruder Peter und Schwägerin Karin verbrachten mit ihnen gemeinsame Ferientage an einem Berliner See. Auf der Rückfahrt nahmen sie dann ihre voll aufgekratzte und fröhliche Mami endlich wieder mit nach Hause.

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