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Tagebuch pitoresk
2008-05-01 11:18
Genosse Kollege im Traininigscamp
Heute ist der 1. Mai. Ein Feiertag, den ich seit Anbeginn meines Lebens zum Ausschlafen nutze. Gewisse Menschen haben just an diesem Ausschlaftag stets Randale in einem Berliner Problembezirk veranstaltet (in Kreuzberg werden wohl auch heute wieder Müllcontainer und Autos brennen, vielleicht wird sogar ein Supermarkt geplündert - aber das gab es eigentlich schon lange nicht mehr). Die ganz Perversen dieser Nation nutzen den 1. Mai jedoch nicht zum Ausschlafen, nicht zum Randalieren, sondern zum Demonstrieren.

Der 1. Mai ist bekanntlich der Tag der Arbeit. Gewerkschaftvertreter sondern im öffentlichen Raum ihre dreißig Jahre alten Sprüche ab, die schon zu ihrer Entstehungszeit nur von begrenzter Weisheit zeugten. Vor langer, langer Zeit interessierte ich mich damals für die politische Arbeit in einer Gewerkschaft, bewarb mich für ein Praktikum und wurde doch tatsächlich genommen. Die dort gesammelten Erfahrungen waren jedoch mehr als ernüchternd. Über die Hälfte der Mitarbeiter hatte bereits eine Alkoholentziehungskur hinter sich und wenn man in die Augen so mancher schwarzumrändeter Therapieunerfahrender blickte, so überkam einen die Vermutung, dass wohl auch dieser oder jener ein klitzekleines, aktuelles Alkoholproblemchen haben könnte. Über die damaligen Erlebnisse schrieb ich ein sarkastischen Bericht, den ich hier im Auszug veröffentlichen will. Es geht los:

Genosse Kollege im Trainingscamp

"Männer waren nie und werden niemals sensibel sein", ereifert sich Ingrid, die politische Sekretärin des Referats für Gleichberechitgungsfragen und vergaß dabei fast das Luftholen, "die denken doch immer nur an Geld". "Du täusch dich nicht über die Gefühlstiefe des Kapitals! Statistisch gesehen sind die meisten männlichen Selbstmörder vermögend", urteilte ihre Kollegin aus dem Nebenzimmer, in dem es zuvor schon seit Monaten keine Antwort mehr gab, weil Ingrid häufig zu einer ihrer hausgefürchteten Selbstgespräche mit ihren Zimmerpflanzen ansetzte.

Ingrid rückt kurz ihren enganliegenden Hosenanzug zurecht. Natürlich trug sie schwarz, natürlich war auf dem Anzug kein Fussel zu sehen. Keines ihrer blonden, langen Strähnen hätte es je gewagt, während der Arbeitszeit auszufallen und sich auf ihren Hosenanzug niederzulassen. Ingrid war stolz darauf, sich stets im Griff zu haben. Manchmal hatte sie ihre eigenen Probleme so fest im Griff, da konnte kein Problem gelöst werden.

Ingrid hat einen Freund. Sie redet aber lieber abschätzig von ihrem Lebensabschnittsgefährten, der zur Zeit so etwas wie ein Zutrittsrecht besitzt. Kann aber jederzeit entzogen werden. Bevor er sie streichelt, scheint er erst mal so eine Art Waffenscheinberechtigungskarte vorzeigen zu müssen - und die wird bei jedem Grenzübertritt daraufhin überprüft, ob sie überhaupt noch gültig ist. Es ist nicht leicht mit ihr, aber ihr macht es ja auch keiner leicht.

Ingrid betritt mein Zimmer. Was mag passiert sein?
A - Sie hat sich eine neue Zimmerpflanze zugelegt
B - Sie hat den Waffenberechtigungsschein ihres Lebensabschnittsgefährten um weitere drei Monate verlängert
C - Sie hat Arbeit auf ihrem Schreibtisch gefunden und will mit mir teilen
D - Sie wollte mich mal sehen

Das monotone Surren des Computers und die bis in mein Zimmer nur leicht akustisch verzerrt ankommenden Guten-Morgen-Kollege-Rufe erinnern mich daran: ich muss wohl gerade arbeiten. Der Leiter der Poststelle heißt Gerd und bewegt seine Gesichtsmuskeln nie. Keine Ahnung warum, vielleicht spart das Lebensenergie und er hofft, dies sei eine lebensverlängernde Maßnahme. Als ich mich einmal erdreistete einen Witz zu machen, blieb Gerd faltenfrei. Gerd repitierte spontan in meine Richtung: Kollege, Witze machen wir hier nicht!

Die Entscheidung musste übrigens damals nicht lange reifen. In einer Gewerkschaft sollte man schon alleine aus gesundheitlichen Gründen keinen Arbeitsvertrag unterschreiben. Hier zu arbieten macht krank.

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Kommentare

15:44 01.05.2008
herrlich wunderbar geschrieben ...
ich verschlaf den heutigen Tag leider auch ...
Soll der Kommentar wirklich gelöscht werden?
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2008-05-01 11:18