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Thursday, 28. March 2024
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Tagebuch staunistauni
 1958-01-17 hh:mm
Wiedersehen in Westberlin

 

Nach einem Jahr sah Elvira endlich ihren großen Bruder wieder. Eigentlich durfte sie als Eisenbahnlehrling nicht nach Westberlin. Sie ließ sich den Fahrschein nach Oranienburg, wo eine Tante lebte, ausstellen. Von dort aus war es ein Leichtes mit der S-Bahn in den Westsektor zu gelangen.

Wie schick Du angezogen bist! Wo hast Du denn den ekelhaften Fischgrätenmantel gelassen?“ so scherzte die kleine Schwester. Überhaupt fand sie, ihr Bruder war ein richtiger Mann geworden. Als sie die kleinen Geschenke auspackte, fragte sie ihren Vater: „Warum ziehen wir nicht alle nach Stuttgart?“ Die Antwort konnte sie sich aber selbst geben, denn sie verfolgte ja ständig die Debatten zwischen ihren Eltern. Der Vater drängte schon lange darauf, in den Westen zu gehen. Er wollte sich erst mal allein eine Existenz aufbauen und dann die Familie nachkommen lassen. Doch das war Mutter Lotti zu unsicher. „Ich war im Krieg schon acht Jahre allein und wenn Du jetzt gehst, dann lernst Du vielleicht eine Andere kennen und ich sitze hier!“ Nein das ließ die extrem eifersüchtige Lotti Schrader nicht zu.

Als Hans-Jürgen nach einem schönen Wochenende in Berlin-Tempelhof wieder in den Flieger stieg, ließ er seine Eltern mit einem flauen Gefühl in der Magengegend und die kleine Schwester mit einem bisher unbekannten Gefühl von Fernweh zurück. Bis zum nächsten Wiedersehen der Geschwister würde viel Zeit vergehen.

Ein paar Urlaubstage verbrachten die drei noch bei der Tante in Oranienburg. Dort nahm Tochter Gerda ihre kleine Cousine Elvira das erste Mal mit auf den Tanzsaal. Gerda, deren Mutter Schneiderin war, zog sich ein hübsches rotes Kleid an. Sie fragte die kleine Cousine: „Rieche ich immer noch nach Fisch?“ Gerda arbeitete in einem Fischgeschäft und hatte versucht mit Wasser und jeder Menge Duftstoffe dem Geruch zuleibe zu rücken. Doch die Mischung von Fisch und Parfüm war ekelhaft. „Nein!“ log Elvira. Sie wollte nicht, dass Gerda traurig ist. Jetzt holte Gerda für die Jüngere ein wunderschönes grünes Kleid mit einem kleinen schwarzen Pelzkragen aus ihrem Schrank, welches Elvira an diesem Abend mit Stolz trug. Da Vati und Mutti nicht da waren, schminkte sich Elvira das erste Mal in ihrem Leben die Lippen. Sie fand es toll auf dem Tanzboden. Als fremdes Mädchen hatte sie auch gleich viele Verehrer, aber anstatt das zu genießen, verguckte sie sich sofort in den blonden braunäugigen Dieter und tanzte den Rest des Abends nur noch mit ihm. Da ging kurz nach Mitternacht die Tür vom Tanzsaal auf und unverhofft stand Vater in der Tür. Er war außer sich und Elvira musste, ohne dass sie sich verabschieden konnte, sofort mitgehen. Oh, was hatte sie für eine Wut im Bauch! Hoffentlich würde etwas aus der Verabredung werden! Hätte ihr Vater gewusst, dass es das erste und letzte Mal in ihrer Jugend war, dass sie solo auf dem Tanzsaal war, wäre er bestimmt nicht so streng gewesen. Mit einer Ausrede klappte die Verabredung zum Kino, aber danach musste Elvira von dem hübschen Dieter für immer Abschied nehmen.

An den restlichen Urlaubstagen lernte das Mädchen aus der „Provinz“ noch die „große bunte Welt“ in Westberlin kennen. Die zweite Schwester von Alfred Schrader wohnte in Westberlin. Der neunzehnjährige Cousin Ebby mietete sich ein Auto und zeigte der kleinen Cousine die Sehenswürdigkeiten von Berlin. Sie fuhren mit damals enormer Geschwindigkeit von 100 km/h über eine Autobahn. Die bunten Einkaufsstraßen und das „Kaufhaus des Westens“ hinterließen bei dem Teenager bleibende Erinnerungen. Allerdings war das Abendprogramm der konservativ erzogenen Tochter gar nicht nach ihrem Geschmack. Der Kudamm kam ihr vor wie die „Dresdner Vogelwiese.“ Ebby wollte nun seiner Cousine mit einem Kinobesuch etwas Gutes tun. Schon nach einigen Minuten zog Elvira ihren Cousin am Arm: „Bitte lass uns wieder gehen, ich fürchte mich so schrecklich!“ Ebby hatte einen Film gewählt, in dem eine große lebendige Masse so nach und nach alles, wohin sie sich auch wälzte, verschlang. Die Masse wurde dabei größer und größer. Ebby ließ sich erweichen und führte das schreckhafte Cousinchen in sein Stammlokal. Dort schaute sie interessiert, wie der Cousin sein Geld in Spiel-Automaten steckte und zum Schluss alles verlor. Auf einer kleinen Tanzfläche drehten sich ziemlich zwielichtige Gestalten. Elvira sah sich schon wieder ängstlich um. Plötzlich forderte sie ein etwa vierzigjähriger schmieriger Typ zum Tanzen auf. Er drückte sie ganz fest an sich, so dass sie spürte, was er zwischen den Beinen hatte. Sie traute sich einfach nicht mit Worten zu wehren, ließ den Kerl einfach stehen und eilte zu ihrem Cousin. Ebby sagte: „Bist du verrückt, so etwas darf man nicht machen. Es kann sein, dass uns jetzt draußen eine Meute auflauert!“ Schnell machten sich die beiden aus dem Staub. Nun wollte Ebby seinem „anspruchsvollen“ Cousinchen etwas Exklusives bieten. Auf dem Kudamm hatte gerade die neue Nachtbar „Eierschale“ ihre Pforten geöffnet. Elvira setzte sich, als sie die spärliche Beleuchtung und die weißen und schwarzen Typen herumlungern sah, nicht einmal hin. Sie wollte nur noch zu ihrer Tante zurück. Vom westlichen Nachtleben hatte sie erst einmal genug!

 

Zum Glück blieb ihr Ausflug nach Westberlin unbemerkt. Andere Schüler, die man dabei erwischt hatte, bekamen eine „Rüge“ ausgesprochen und mussten sich bewehren.

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