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Friday, 26. April 2024
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Tagebuch staunistauni
 1975-11-28 hh:mm
Versuche einer Wandlung


Nach der Therapie begann noch einmal eine schwere Zeit. Elviras Kopf war voll von neuen Erkenntnissen. Vieles wollte sie sofort umsetzen, aber sie wusste einfach nicht, womit sie beginnen sollte. Bis in die Nächte hinein diskutierte sie mit Helmut und versuchte, ihm ihre neu gewonnene Lebenseinstellung zu übermitteln.

Sie bestellten sich erst mal wieder eine Zeitung, dazu kauften sie sich, wenn sie ihn erwischten, den „Eulenspiegel“. Diese Zeitung verstand es, gut verborgen, DDR-Probleme satirisch darzulegen. So etwas brauchten sie jetzt. Von nun ab informierten sie sich wieder über ihren kleinen Horizont hinaus.

Als nächstes gingen sie gemeinsam an das Erziehungsproblem. Beim Schreiben ihres Lebensberichtes war Elvira so vieles aufgefallen. Sie hatte zum Beispiel festgestellt, dass sie ihre Kinder fast ebenso erzog, wie es ihre Eltern getan hatten. Im Vordergrund stand besonders bei ihrer Mutter immer die Bewältigung des Haushaltes. Alles musste funktionieren, die Kinder mussten aufs Wort hören und immer im Rahmen des Möglichen tiptop gekleidet sein. Was Elvi in ihrer Kindheit vermisst hatte, war die Herzlichkeit, das direkte Interesse der Mutter an der Entwicklung ihrer Kinder und manchmal einfach nur ein leises Streicheln. Mit ihren kleinen Sorgen wäre sie niemals zu ihren Eltern gegangen. Probleme trug sie wochenlang, sogar jahrelang, mit sich herum und so machte sie alles mit sich selbst ab. Ihr Vati war etwas liebevoller, er nahm sie auch oftmals in Schutz, wenn die Großen sie wieder mal ärgern wollten. Sie fühlte sich zuhause zwar wohl, aber doch ziemlich allein.

Wenn sie sich die Vergangenheit ihrer Eltern betrachte, verstand sie vollkommen, warum sie so waren. Sie kannten es einfach selbst nicht anders.

Doch nun war Elvira erwachsen und hatte eigene Kinder. Jetzt wurde es Zeit dafür, einen weiteren Schritt zu machen und der nächsten Generation etwas mehr mitzugeben. Dieser Gedanke hatte sie in der Therapie oft bewegt.

Sie widmete sich mehr als bisher ihren Kindern, bastelte mit ihnen, ließ es einfach zu, wenn dabei ihre Zimmer oftmals wüst aussahen. Sie versuchte sich mehr in die Jungs hinein zu versetzen.

Was nützten mir aufgeräumte Zimmer, wenn die Kinder sich darin langweilten oder vielleicht woanders ihre Freizeit verbrachten?“

Jeder von ihnen durfte jetzt die Freunde mitbringen, die er sich selbst ausgesucht hatte. Sie schenkte ihren Jungs einfach mehr Vertrauen. Elvi achtete jetzt auch darauf, die Interessen der Kinder mehr zu fördern. Jörg war sehr vielseitig interessiert und wäre am liebsten in sämtliche Arbeitsgemeinschaften gleichzeitig gegangen. Eine Absprache mit der Lehrerin ergab, etwas für den Geist und etwas für den Körper zu tun.

Also spielte er von nun ab Fußball und ging mit Freude in einen Kabarettzirkel.

Wenn etwas in der Schule passiert war, schimpfte Elvira nicht gleich los, sondern ergriff erst einmal Partei für ihre Jungen. Meist erzählten sie dann selbst, ob sie einen Anteil an der Sache gehabt hatten.

 

In der DDR hatte jede ganztägig arbeitende Frau einen bezahlten Haushalttag im Monat. Bisher hatte Elvira an diesem Tag von früh bis abends geputzt. Das verteilte sie nun auf die Wochentage. An den Haushalttagen schnappte sie sich oft die Kinder und fuhr mit den ihr zur Verfügung stehenden Freifahrtscheinen in andere Städte. Sie schauten sich den Zoo in Leipzig, den Tierpark Berlin, den Alexanderplatz, die Mauer an, fuhren nach Görlitz und einmal stand sie mit den Jungen vier Stunden in der Warteschlange vor dem neu erbauten ersten Erlebnisbad der DDR in Berlin.

 

Natürlich wichen Elviras Ängste erst allmählich, mal war es schlimmer, mal wieder besser. Sie versuchte einfach nicht so viel Rücksicht auf sich selbst zu nehmen und die Angst nicht mehr so stark an sich heranzulassen.

Einmal war sie mit Dirk in der „Sächsischen Schweiz“ zum Wandern. Auf halbem Wege gab es in den Felsen wegen des Höhenunterschiedes eine lange Treppe. Diese Stiege war die einzige Möglichkeit auf dem Wanderweg weiterzukommen.

Als Elvira auf diese lange Stiege und die Tiefe sah, erstarrte sie zur Salzsäule.

Nein, niemals werde ich hier hinuntersteigen!“ Die Angst lähmte ihren ganzen Körper. „Was tun?“ Zurück konnte sie auch nicht mehr, denn der bisherige Weg war auch schon eine Herausforderung für sie gewesen. Sie wollte doch vor ihrem Sohn nicht zugeben, dass sie noch immer unter Höhenangst litt. Da kamen von hinten auf diesem schmalen Abstieg ganz viele Leute. Dirk bemerkte nun ihr Zögern und sagte: „Komm doch Mutti, ich gehe vor dir!“ Es half nichts, sie blieb wie angewurzelt stehen und die alte panische Angst bemächtigte sich ihres Körpers. Sie ließ ein paar Leute vorbei, u.a. auch ein Ehepaar mit einem Schäferhund. Elvira beobachtete den Hund und bemerkte, dass dieser genau so eine schreckliche Angst hatte wie sie. Sie schaute zu, wie das Herrchen sein zitterndes, steifes Tier die Leiter herunterzog. Das war ihre Gelegenheit! Während sie dem Hund zuschaute, stieg sie ihm angstvoll Stufe für Stufe hinterher.

Nun hatte sie es geschafft. Die Höhenangst war also durch die achtwöchige Therapie nicht besiegt.

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