Willkommen auf Tagtt!
Friday, 19. April 2024
Tagebücher » staunistauni » News, Bilder, Videos - Online
Tagebuch staunistauni
 1977-10-01 hh:mm
Die neue Sicht der Dinge


Elvira war inzwischen soweit gefestigt, dass sie sich nun zwei Jahre nach der Therapie um eine frei werdende Stelle in der Abteilung Grundmittel bewarb. Dort war ihre Aufgabe, die Planung des Kaufes von Maschinen, sowie die Aussonderung alter Arbeitsmaschinen, Fahrzeuge und Geräte für den gesamten Betrieb zu planen. Außerdem war sie für die Erstellung der Grundfondsanalyse zuständig. Eigentlich hätte das eine schöne Aufgabe sein können, wären da nicht die besonderen Erschwernisse der sozialistischen Planwirtschaft gewesen. Sie konnte nicht so einfach alte, verschlissene und abgeschriebene Grundmittel verschrotten lassen. Wenn trotz dringender Notwendigkeit kein neues Gerät gekauft werden konnte, was meist der Fall war, musste das alte irgendwie wieder hergerichtet werden. Darüber musste sie oftmals auch mit ihrem neuen Chef, Christian Rudolf, und den Verantwortlichen der vier Außenstellen diskutieren. Einmal in Jahr besprach dieser Arbeitskreis, welche Neuanschaffungen an Maschinen und Fahrzeugen für das nächste Jahr geplant werden sollten. Es wäre ein Leichtes gewesen, den wirklichen Bedarf aufzunehmen und zur Bestellung weiterzugeben. Da es aber Engpässe auf allen Gebieten gab, wusste niemand wirklich, in welchem Umfange neue Baumaschinen etc. geliefert würden. Hätten man beispielsweise nur drei neue Krane geplant, dann wären diese aus der Gesamtplanung, die in Berlin bearbeitet wurde, gleich rausgeflogen. So wurden z.B. sechs Krane bestellt, um evtl. zum Schluss einen einzigen zu erhalten. Dazu kam, dass die Bank für jede geplante Investition eine Nutzensrechnung vorgelegt haben wollte. Das war ein besonders heißes Eisen, da ja noch keiner wirklich wusste, wo z.B. der Kran, wenn er dann beschafft werden würde, im nächsten Jahr zu arbeiten hätte. Wenn der Beschaffungs- und Aussonderungsplan sowie die Nutzensberechnung für die Bank fertig waren, konnte es durchaus sein, dass durch irgendeine Parteitagsinitiative das Gesamtkonzept des Betriebes geändert wurde. Alles, was mühevoll geplant und berechnet worden war, war dann hinfällig und alles begann noch einmal von vorn. Die Meinung, in der DDR wurde nicht gearbeitet, stimmt so nicht. Oftmals musste kurzfristig alles geändert werden, so dass Hoch- und Fachschulkader ohne Bezahlung und ohne Abgleichung der Überstunden länger arbeiteten bzw. die Arbeit mit nach Hause nehmen mussten. Elvira meinte viel später, dass die Arbeit in der DDR auf einigen Gebieten durch den ständigen Mangel und die laufenden Veränderungen wesentlich schwieriger gewesen sei als in den alten Bundesländern. Dazu kam noch der politische Druck, der auf Leuten in führenden Positionen lastete. Bei der Jahresplanung in einer Außenstelle, durften Führungskräfte nicht ehrlich mit den Kollegen sprechen. Sie mussten einfach so tun, als wäre alles bestens. Grottenschlechte Erzeugnisse aus dem sozialistischen Ausland durften nicht schlecht gemacht werden, im Gegenteil, die Leiter sollten die (nicht vorhandenen) Vorzüge gegenüber denen aus dem kapitalistischen Ausland hervorheben. Elvira war froh, dass meistens der Abteilungsleiter Christian Rudolf bei diesen Besprechungen dabei war. Er hatte es im Laufe der Jahre gelernt, so zu diskutieren, dass man ihm nichts anhaben konnte. Er eierte so erfolgreich um die Probleme herum, dass die Mitarbeiter genau wussten, wie er wirklich darüber denkt, die Chefs aber nicht merkten, wie er sie eigentlich auf den Arm nahm. Bei Elvira dauerte es auch eine ganze Zeit bis sie mit bekam, dass man mit ihm, wenn kein oberster Chef dabei war, „ Deutsch“ reden konnte. In diese Abteilung wurde ein neuer Kollege, der Manfred Weber, versetzt. Einige, die ihn kannten, schienen zu wissen, dass er für die Stasi arbeitete. Es hieß also auf der Hut zu sein. Elvira hatte eigentlich nie den Eindruck, dass er dazu gehörte. Sie verstand sich mit ihm ziemlich gut. Wenn der Abteilungsleiter nicht da war, sangen sie oft zusammen. Gefährliche Sachen erzählte sie in der Arbeit so wie so nicht, höchstens in der Rechtsabteilung und dort herrschte ein sehr gutes Vertrauensverhältnis. Elvira hat nie erfahren, ob Manfred wirklich ein IM war, jedenfalls hat er ihr niemals geschadet und sie stand noch lange mit ihm und seiner Frau in Verbindung. Elvira hatte die Stelle in der Grundmittelabteilung wahrscheinlich nur auf Grund ihrer Parteizugehörigkeit bekommen. Doch im ersten Jahr ihrer neuen Tätigkeit fühlte sie sich stark genug und packte ihr Parteibuch und ein Schreiben in einen Umschlag und legte diesen dem Parteisekretär auf den Tisch. Da er nicht anwesend war und Elvira danach eine Tage Urlaub genommen hatte, umging sie sämtliche Fragen. Als sie wieder auf der Arbeit war, hörte sie von allen Seiten, wie man sie verzweifelt gesucht hätte. Inzwischen hatte sich der größte Sturm gelegt und man akzeptierte erstaunlicher Weise ihren Wunsch, der da lautete: “Ich lasse mich auf keinerlei Diskussion ein, mein Entschluss ist unabänderlich!“

Kommentare

Noch keine Kommentare!
Kommentieren


Nur für registrierte User.

staunistauni Offline

Mitglied seit: 19.07.2012
81 Jahre, DE mehr...
Wirklich beenden?
Ja | Nein

1977-10-01 hh:mm