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Tagebuch MI
2005-05-15 15:15
Gedanken zur Seele
Wie ist das denn nun mit der Seele? Gesehen habe ich noch keine. Wo ist die Seele? Was ist die Seele überhaupt? Warum gibt es diesen Begriff? Woher kommt er? Wenn ich Sprache richtig verstehe, dann spiegelt sie immer die Bedürfnisse der Menschen wider. Etwas namenloses erscheint, und damit man damit umgehen kann, erhält es einen Namen.

In "Seele" steckt "See", und laut ethymologischem Wörterbuch bedeutet "Seele" soviel wie "die zum See gehörende", wobei das Wort "See" an sich etymologisch ungeklärt ist. Weiter heißt es dort: "Nach alter germanischer Vorstellung wohnten die Seelen der Ungeborenen und der Toten im Wasser."

(Noch etwas ganz anderes, aber sehr interessantes, von den Germanen überlieferte Cornelius Tacitus in seiner Schrift "Germania". Dort steht: "Geld auf Zinsen zu leihen und dies auch auf die Zinsen auszudehnen (also der Zinseszins), ist ihnen unbekannt und wird deshalb mehr gemieden, als wenn es verboten wäre.").

Das altgermanische Wort "Sele" und seine einstige Bedeutung ist heute vom Christentum und anderen Religionen geprägt. Und wenn ich versuche, ein Grundmerkmal des Wortes "Seele" durch alle Religionen und Kulturen herauszuschälen, so komme ich auf die Unsterblichkeit. Die Seele, bzw. das, wofür dieses Wort steht, ist unsterblich. Ich kann darunter die Essenz eines Menschen verstehen, sein innerstes Innerstes, sein wahrstes Selbst, sein eigentliches Wesen.
Alles um den Menschen herum kann sterben, seine Pläne können scheitern, seine Träume platzen, seine Ziele kann er verfehlen. Am Ende stirbt er sogar. Nicht aber seine Seele.

Neben der Seele wird auch in allen Religionen, Weltanschauungen und Kulturen ein "Ich" akzeptiert, das da steht für egoistisches Verhalten, Machtgier, Sucht usw., oder ganz allgemein für den illusionären Part eines Menschen (das kann ja auch eine übertriebene Emotionalität sein, die zunächst einmal nicht unbedingt egoistisch aussieht). Ein "Ich" ist etwas, das den Menschen von seiner wahren Natur abhält und ablenkt. Ein üblicherweise sehr hartnäckiges "Ich", auch wenn es illusionär ist.

Und was ist nun der kleinste Nenner dieses "Ichs" über alle Religionen und Anschauungen hinweg? Ich kam da drauf: es will nicht sterben (bzw. es steht für alles das, was nicht sterben will). Es will leben. Wie Unkraut vermehrt es sich, eine Wurzel ausreißen reicht nicht und alle Wurzeln auszureißen ist nahezu unmöglich. Das Ich will auf keinen Fall sterben.

Meine Frage, die sich in diesem Zusammenhang ergibt: was wäre denn nun naheliegender für dieses "Ich", als sich der Region zu bemächtigen, die gemeinhin als "Seele" betrachtet wird? Dieser Ort oder Raum ist der am besten geschützte Ort der ganzen Welt. Die Seele ist des Menschen größtes Heiligtum. Da läßt er niemanden ran. Und wenn alles um ihn herum zusammenbricht, auf seine Seele läßt der Mensch nichts kommen.

Die Seele als die letzte Bastion des "Ichs"? Das ist nur folgerichtig. Im nicht-seelischen Leben wird andauernd gestorben, zwangsläufig, da dort nichts von Dauer ist. Das dämmert irgendwann noch jedem "Ich". Es liegt auf der Hand: das "Ich" wird früher oder später die "Seele" für sich entdecken und sich dorthin zurückziehen. Und das muß eine riesige Erleichterung für es sein, denn auf einmal befindet es sich an einem Ort, an dem es offenbar vollkommen ungestört sein kann.

Und so kommt der Prozess der Aufdeckung falscher Identifizierungen ausgerechnet in der "Seele" zum stocken. Die Seele aufzugeben, das ist einfach zuviel verlangt. Alles ist man ja bereit herzugeben, aber nicht die Seele, oder vielleicht besser: das Konzept von Seele (es spielt letztlich gar keine Rolle, ob es so etwas wie "Seele" nun gibt, oder nicht). Im Gegenteil wird ja das Seelenkonzept immer stärker in seinem Gewicht, mit zunehmendem Scheitern in der nicht-seelischen Welt.

Nicht-anhaften bedeutet aber nicht "Nicht-anhaften bis auf mein Anhaften an die Seele". Wenn, dann muß ganz losgelassen werden. Sterben bedeutet nicht "Sterben bis auf meine Seele". Wenn, dann muß ganz gestorben werden. Und Aufgeben und Kapitulieren bedeutet nicht "Aufgeben und Kapitulieren bis auf meine Seele". Wenn, dann muß ganz kapituliert werden. Dann darf man nicht noch an Konzepten festhalten, die eine Art Auffangbecken von gescheiterten Ichs sind.

Scheitern ist nicht schlimm, scheitern ist ganz normal. Leben ohne scheitern, das geht gar nicht. Warum also nicht vollständig aufgeben? Ich will doch auch die Liebe nicht zu neunzig, fünfundneunzig oder neunundneunzig Prozent, sondern ich will sie zu hundert Prozent. Dann muß ich aber auch alles aufgeben können. Alles, und nicht "alles bis auf meine Seele".

MI


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