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Tagebuch MI
2005-05-20 10:28
Godot kommt nicht
Mir ist ein- und aufgefallen, wie sich dieses Muster, das ich im letzten Eintrag angesprochen habe: erst das Opfer, dann das Paradies, nicht einfach nur im Bereich von Religion und Glaube abspielt, sondern genau genommen spielt sich das ständig und überall ab (auch bei mir..).

Nur noch diesen Krams erledigen, dann ist Feierabend.
Nur noch diesen Tag rumbringen, dann ist Wochenende.
Nur noch ein paar Wochen, dann beginnt mein Sommerurlaub.
Nur noch ein paar Jaare, dann gehe ich in meinen (wohlverdienten natürlich) Ruhestand.
Fehlt eigentlich nur noch: jetzt noch dieses Sterben hinter mich bringen, dann habe ich es geschafft.

Oder:

Nur noch diese Arbeit schreiben, dann habe ich endlich meine Ruhe.
Nur noch die Ausbildung hinter mich bringen, dann kann ich endlich selber meinen Tag gestalten.
Nur noch dieses unangenehme Gespräch zu Ende führen, dann ist die Bahn frei.
Nur noch dieses eine Mal, lasse ich das mit mir machen. Dann ist Schluß damit.

usw.

Was steckt dahinter? Dahinter steckt eine bestimmte Vorstellung von Glück und Zufriedenheit und wie alles zu sein hat, damit sich das einstellt. Glück ist es für mich eben nicht, wenn ich ein mir unangenehmes Gespräch führen muß, eine Arbeit machen muß, die mir nicht paßt, wenn ganz allgemein die Umstände so sind, daß ich mich in ihnen nicht wohl fühle.

Jetzt stehe ich jedesmal vor der Entscheidung: entweder ich ändere etwas an den Umständen, oder ich akzeptiere sie, vertröste mich aber damit, daß es dafür irgendwann eine Art "Ausgleich" geben wird (wird es übrigens nie geben). Die meisten entscheiden sich für den "Ausgleich", den wohlverdienten. Was Konsequenzen hat.

Gestern führte ich ein Gespräch mit einem älteren Mitarbeiter, der mir an sich sympatisch ist. Klar, jeder kennt hierzulande die Verschuldungsmisere und die damit verbunden Auswirkungen wie Wachstumszwang, Arbeitslosigkeit, soziale Spannungen, sozialer Stress unter denen, die noch Arbeit haben etc. Ich finde es trotzdem immer wieder erschütternd, wie gerade die Älteren (aber wenn ich das bei Jüngeren sehe, ist das noch viel erschütternder) nur noch auf ihren letzten Arbeitstag schielen. So ähnlich wie das bei mir damals zu meiner Bundeswehrzeit war: da hatten viele Wehrpflichtige einen Zettel mit der Angabe der Resttage, und rissen da immer den aktuellen Tag ab, um jeden Tag zu sehen, wie sie dem letzten Tag jeden Tag näherkamen.

Ist das vorbildlich?

"Jetzt habe ich 45 Jahre auf dem Buckel, mir langt's. Ich gehe in Rente". Eine ganz normale Floskel. Damit meinen sie, wäre der Fall erledigt. Sie haben genug Opfer gebracht, meinen sie, und erwarten nun, daß andere Opfer bringen, für ihren wohlverdienten "Ausgleich".

-

Mir geht es nicht darum, eine Generation anzuprangern, jede Generation hat ihre eigenen Hausaufgaben. Aber ich prangere einen Lebensstil an und eine Lebenseinstellung, die ich als lebensfeindlich empfinde. Das kommt eben dabei heraus, wenn man es zu seinen Lebzeiten verpaßt, etwas an den Umständen zu ändern. Dann verfällt man in eine Opferrolle und verdammt alle Nachfolgenden ebenfalls dazu. Und so verkarsten die Strukturen und wird es immer schwieriger, überhaupt noch etwas zu tun und zu verändern, obwohl für jeden offensichtlich ist, daß es - wie es so schön heißt - so "nicht mehr lange weitergehen kann", es irgendwann "Rumms machen wird".

Ja? Wird es wirklich irgendwann "Rumms" machen? Ich habe da meine Zweifel. Der Mensch ist unendlich leidensfähig, die Beschäftigung mit den Zuständen, die zu den Bauernaufständen im späteren Mittelalter geführt haben, erregt Erstaunen. Die Bauern haben unglaublich viel ausgehalten, bis sie endlich zu den Mistgabeln gegriffen haben. Und wenn ich mir überlege, daß es vielleicht erst soweit kommen muß, bis es "Rumms" macht, da können wir hier noch locker zweihundert Jahre so weiter machen, ohne irgendein "Rumms".

Ja, ich mache es mir auch manchmal vor: vielleicht ist irgendwann doch das Gröbste überstanden, vielleicht wird es in den nächsten 20 oder 30 Jahren wieder eine Währungsreform geben, die die alten Schulden auf Kosten der Guthaben vernichtet, damit man wieder von vorne beginnen kann (in der Geschichte ist kein Fall bekannt, wo nicht irgendwann auf irgendeine Weise alle Schulden beglichen wurden, also sind auch wir irgendwann reif, für die 1,4 Billionen Euro aufzukommen). Vielleicht können meine Kinder in einer anderen Welt leben, vielleicht müssen sie nicht mit Schulden groß werden.

Aber das ist leider auch nur eine Vertröstung, ein Selbstbetrug. Ich habe schon vor zehn Jahren, als ich in den Anfängen meiner Dissertation war, gedacht, daß in der Zeit, die ich für die Dissertation brauche, die Wirtschaft sicher wieder in Gang kommen wird und sich der Arbeitsmarkt wieder entspannen wird. Mann, wie lange das dauert, bis die Erkenntnis da ist, daß das Warten auf den Aufschwung ein Warten auf Godot ist!

Alles Warten ist Warten auf Godot. Und so hart diese Erkenntnis auch sein mag: Godot kommt nicht. Weil es keinen Godot gibt. Außer ich selbst bin es.

Was bedeutet das für mich? Was kann ich tun? -

Entweder ich gehe nicht mehr in den Chor, oder ich werde mich endlich darüber beschweren, daß die Probenzeiten nicht eingehalten werden, daß man sich einfach nicht darauf verlassen kann, daß man um halb zehn nach Hause gehen kann. Weil kurz vor halb zehn immer noch "schnell" ein Stück durchgesungen werden muß, und dann "schnell" nochmal im Stehen, zum Abschluß. Und wieder ist es zehn oder fünzehn Minuten länger geworden.
Mann, was mich das ärgert! Ich finde das total despektierlich dem gesamten Chor und dessen Freiwilligkeit gegenüber. Und diese trübe Chormasse, wo niemand etwas sagt, sondern nur mal hier und da ein Grummeln oder ein leiser zynischer Scherz zu hören ist, das macht mich noch viel zorniger.

Niemand sagt etwas. Alle ärgern sich und warten auf Godot. Ich inklusive.

MI


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Kommentare

14:15 21.05.2005
Hallo Kaya,
danke für den netten Kommentar und viel Vergnügen bei dem Klassentreffen (Fotos nicht vergessen ).
Grüße, MI
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unbekannt
15:36 20.05.2005
ja, ich lese auch sehr gerne bei Dir.... ;o)
ich glaube das Problem ist, dass man eingetrichtert bekommt, dass man nach immer mehr und noch größerem streben soll. Allerdings haben es die meisten Menschen verlernt, sich an den kleinen Dingen zu erfreuen und das sorgt für Unzufriedenheit. Manchmal, nicht immer....
Wenn die Sonne rauskommt schaue ich immer mal für einige Sekunden zu ihr, das hilft manchmal enorm viel ;o)
Dir ein schönes Wochenende Kaya


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unbekannt
11:31 20.05.2005
Immer wieder schön bei dir zu lesen
Aber wie man es auch dreht und wendet, ich finde wir jammern auf einem sehr hohem Niveau...
Ich für meinen Teil denke sehr selten, nur noch das schaffen etc. ich versuche dem was ich tue immer etwas positives abzugewinnen...
Irgendwie glaube ich, dass alles was wir im Leben tun einen bestimmten Sinn hat


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