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Tagebuch Doc12
2010-09-19 10:51
Der weinende Clown - 59

„Was hat die Ärztin gesagt?“, fragte Bruno, als sie im Auto saßen.
„Er hat tatsächlich eine Gehirnerschütterung, sie ist aber nicht so schwer wie zuerst angenommen. Übermorgen darf ich ihn zwar mit nach Hause nehmen, er muss sich aber noch schonen. Also Spielen mit anderen Kindern ist noch nicht. Zumindest noch nicht in den nächsten Wochen.“
„Hört sich gut an.“
„Ja, ich bin froh, es ist noch relativ glimpflich abgegangen – das einzige, was mich ärgert, ist, dass unser Ausflug so abrupt enden musste.“
„Die gestrige Nacht hat uns aber voll dafür entschädigt, mein Schatz.“ Er lächelte sie verliebt an und strich ihr über die Wange.
„Was mir gerade einfällt: „Wie war das nun mit dem Stenographieren in der zweiten Klasse? Ist ja fast unglaublich.“ Sarah schüttelte den Kopf.

„Oh, das ist schnell erzählt: Ich hatte einen Lehrer mit der Angewohnheit, alle Schüler, die nicht artig waren oder den Unterricht störten, an den oberen Rand der Tafel zu schreiben, um sie nach dem Unterricht zu bestrafen. Er schrieb die Namen aber nie in normaler Schrift, sondern immer in Steno. So wussten wir Schüler nie, wer nun an der Tafel stand oder nicht. Eines Tages kam ich auf die Idee, diese mir unbekannten Schriftzeichen ganz exakt abzumalen. Als ich zu Hause war, fragte ich meinen Vater, ob er das lesen könne. Er las mir die Namen vor und erklärte mir, dass es sich dabei um Kurzschrift handle. Mein Vater hatte eine kaufmännische Lehre gemacht und natürlich auch Steno gelernt. Nebenbei ließ er die Bemerkung fallen, dass er noch irgendwo Lehrbücher darüber haben müsse. Also bettelte ich so lange, bis er sie mir gab. Sofort besorgte ich mir Stenohefte, Federhalter und spezielle Federn dazu und fing an zu üben.“

„Aber warum hat dich das so interessiert?“
„Es war für mich so eine Art Geheimschrift, verstehst du? Und ich wollte etwas können, was die anderen nicht konnten. Etwas, was nur ich ganz allein zu tun in der Lage war und das auf meine ganz ureigene Weise. So war ich schon immer – egal, was ich im Leben jemals gemacht habe – und es ist bis heute so geblieben, vermute ich ...“
Sarah schüttelte verwundert den Kopf.
„Ich übte eifrig ein paar Monate, es machte unheimlich Spaß und bald hatte ich es so drauf, dass ich selbst Steno flüssig schreiben und lesen konnte. Ich habe das aber nie jemandem gesagt – nicht mal meine Eltern wussten davon. Schließlich war es ja meine Geheimschrift und die war absolut geheim.“ Er grinste.
„Und dann?“
„Eines Tages musste der Lehrer den Unterricht für eine Viertelstunde unterbrechen. Er gab uns die Aufgabe, ein Gedicht abzuschreiben und befahl mir, auf die Klasse aufzupassen und alle aufzuschreiben, die sich nicht ordentlich benähmen. Das habe ich dann auch getan – allerdings genauso wie er: Ich schrieb die Namen an den oberen Rand der Tafel – in Steno. Als der Lehrer zurück kam, las er die Namen und rügte die Schüler. Erst später fiel ihm auf, dass es Steno war. Er sagte kein Wort, sondern sah mich die ganze Zeit nur ungläubig an. An dem Tag behielt er mich nach dem Unterricht noch da und wollte wissen, ob ich das tatsächlich geschrieben hätte. Ich bejahte. Er glaubte mir nicht,  sondern gab mir einen kurzen Text und die Anweisung, ihn in Steno an die Tafel zu schreiben. Hab ich gemacht. Er bekam Augen groß wie Tomaten, sage ich dir.“

„Ist ja witzig! Und was weiter?“
„Nun – ich hatte bei diesem Lehrer, den ich übrigens sehr gemocht habe, anschließend eine riesige Nummer, obwohl ich ansonsten nur ein eher mittelmäßiger Schüler war. Doch von dem Moment an war ich sein Liebling mit gewissen Privilegien. Ich hatte zu diesem Lehrer noch sehr, sehr lange Kontakt, auch noch als Erwachsener – bis er mit zweiundachtzig Jahren starb. Er war ein kluger, weiser Mann, ein Pädagoge der alten Schule: Streng und doch gütig. Da gab es schon mal ab und zu eine Ohrfeige. Andererseits paukte er nicht nur seinen Lehrplan durch, sondern erzählte und zeigte uns Dinge, die für das Leben wichtig waren und er vermittelte uns menschliche Werte. Heute weiß ich das – und vermutlich ist das mit ein Grund, weshalb ich ihn bis zum heutigen Tag nie vergessen habe. Auf eine ganz spezielle Art habe ich ihn sogar verehrt.“
„Eine schöne Geschichte.“
„Ja – eine schöne Geschichte. Eine wahre Geschichte ... Sie hatte aber noch ein kleines Nachspiel.“
„Ach ja?“

„Einen Monat darauf fand ein Elternabend statt. Auch meine Eltern waren dort und als sie nach Hause kamen, waren sie unheimlich gut gelaunt. Der Lehrer hatte ihnen alles erzählt. Ist ja auch nicht normal, dass ein Achtjähriger stenografiert ... Mein Vater war wahnsinnig stolz auf mich – was mir, ehrlich gesagt, gar nicht so recht war, denn nun war das Geheimnis um meine ,Geheimschrift’ kein Geheimnis mehr ...“

Kommentare


unbekannt
11:34 19.09.2010
wann es wohl mit dem clown weitergeht...

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2010-09-19 10:51