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Thursday, 25. April 2024
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1967-11-11 hh:mm
Sorgen, Angst und Panikattacken

 
Wäre Jörg damals in Wohnungsnähe in einer Kinderkrippe untergebracht gewesen, dann wäre wahrscheinlich alles gut gegangen. Aber die Wochenkrippe der Deutschen Reichsbahn befand sich in einem entgegengesetzten Stadtteil. Das bedeutete einen einfachen Fahrtweg von 90 bis 100 Minuten und zweimaliges Umsteigen mit dem Kinderwagen. Da dieser Wochenkrippenplatz die einzige Chance zum Wiedereinstieg in die Arbeit war, entschlossen sich die jungen Eltern schweren Herzens, ihren Jörg für die fehlenden zehn Monate bis zum dritten Lebensjahr in dieser Einrichtung unterzubringen. Die ersten Wochen funktionierte das auch so einigermaßen. Wahrscheinlich hatten sämtliche Kinder in der neuen Krippe Eingewöhnungsprobleme. In dieser Zeit musste Elvira für zwei Wochen zur Fahrplankonferenz ins Erzgebirge. Dort bemerkte sie beim Besteigen der Geröllhalden, dass sie plötzlich unter Höhenangst litt. Nach einiger Zeit wurde es immer schwieriger, Jörg montags in der Krippe abzugeben. Er fing schon an zu weinen, wenn er das Krippengebäude erblickte. Er hatte wirklich eine ganz liebe Erzieherin, aber es gefiel ihm absolut nicht, dass er für fünf Tage von zu Hause weg musste. Die verzweifelten Eltern setzten sich eine Frist. Wenn sich Jörg bis zu diesem Zeitpunkt nicht an das Krippenleben gewöhnt hatte, wollten sie ihn wieder herausnehmen. Vorher ließen sie sich aber noch von ihrem Kinderarzt beraten.

Dr. Müller meinte: Wenn das Kind nicht essen und nicht mehr schlafen würde, dann könnte er es befürworten, dass der Junge aus der Krippe genommen wird. So meinte er, sei es die Trotzreaktion eines zweijährigen Kindes auf die veränderten Verhältnisse. „Wenn Sie jetzt nachgeben, werden Sie immer nachgeben müssen! Ihr Sohn ist sehr willensstark!“ Der Arzt legte den Eltern aber ans Herz, den täglichen Weg in Kauf zu nehmen, damit Jörg seine Eltern jeden Tag sehen konnte. Das machten diese dann auch ab sofort. Ihnen gefiel es ja auch viel besser, wenn sie ihr Kind nicht nur am Wochenende hatten. Die Fahrerei war allerdings eine Tortur. Elvira kämpfte oft mit den Tränen, wenn sie mit ihrem müden und hungrigen Kind auch im dritten Bus keinen Platz bekam. Um etwas mobiler zu sein, kauften sie vom ersten dazuverdienten Geld einen gebrauchten Motorroller „Wiesel“ und befestigten darauf einen Kindersitz. So konnte oft auch der Papa seinen Sohn bei Wind und Wetter von der Krippe abholen. Das war das Größte für Jörg, wenn Papa ihn mit dem Roller abholte. Nachdem Jörg merkte, dass er jeden Abend geholt wurde, gefiel es ihm schon viel besser in der Krippe. Gefühlsmäßig ging es Elvira wieder besser, aber eine gewisse Unruhe hatte sich in ihr festgesetzt. Wenn sie unterwegs war und an ihr Kind dachte, bekam sie, oft unerklärliche panische Angstgefühle. Sie ging wieder zum Arzt, der verschrieb ihr zuerst ein Mittel zum Blutdruck steigern und später Beruhigungspillen. Um alles „unter einen Hut“ zu bekommen, wäre Elvira sehr gern nur ein paar Stunden arbeiten gegangen. Aber das gab es nicht. Voll oder gar nicht, das war die Devise. So quälte sie sich durch die Panikattacken, ohne mit jemanden drüber zu sprechen. Ihre Tage waren so gefüllt mit Arbeit, Einkauf und Hausarbeit, dass sie kaum Zeit zum Nachdenken hatte und alles Negative immer wieder verdrängte.

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