Alles steht Kopf
Ich bin immernoch nicht schlauer geworden.
Weder aus mir, noch aus meinem Bruder, noch aus seinem besten Freund.

Die ganze Sache wühlt mich ungemein auf. Heute Nacht um 5 Uhr bin ich sogar aufgewacht und war am Rande einer nächtlichen Panikattacke. Hab ich normalerweise nicht sowas. Aber das ist im Moment eh alles übersteigert. Ich bin so weit entfernt von meiner Mitte (sofern ich überhaupt eine habe) wie man es nur sein kann.
In mir drin scheint es zu brodeln.

Gestern Mittag brachen mein Bruder und Dominik direkt wieder zu dem Fest auf, mit der Ankündigung, dass sie ein ganzes Rudel Menschen zum Fußballgucken mitbringen würden.

Als mein Brüderchen am späten Nachmittag dann wieder eintraf, hatte er bereits einen leichten Silberblick und konnte schon nicht mehr ganz schnurgerade laufen. Und er verkündete, Dominik sei bei weitem in einem schlimmeren Zustand.
Eigentlich waren alle, die später kamen, in einem schlimmen Zustand.
Außer den Mädchen. Die waren alle aufgeputzt und parfümiert und kicherten über die Betrunkenen.

Und ich saß in der Mitte dieses chaotischen Haufens. Ungeschminkt, in Jogginghose und T-Shirt.

Dominik war tatsächlich sehr betrunken. Es reichte gerade mal, um sich neben mir auf die Couch fallen zu lassen.
Und es war mir unangenehm, dass er mich dauernd so anstarrte aus seinen roten, glasigen Augen, die er kaum aufhalten konnte.
In diesem Zustand flüsterte meinen Namen und als ich mich ihm zuwandte pfriemelte er an seinem Ohr herum und überreichte er mir einen kleinen rosa Stecker-Ohrring und sagte er würde ihn mir schenken.

Ich merkte also schon relativ früh, dass auch an diesem Abend keinerlei Klarheit zu erwarten wäre.
Mein Bruder und sein bester Freund...sind die wohl größten Chaoten, die man sich vorstellen kann, und setzen dem Grauen innerhalb ihres Freundeskreises regelmäßig die Krone auf.

Nach dem Fußballspiel wuchs sich das Ganze natürlich zu einer spontanen Hausparty aus. Und da ich eh nichts besseres zu tun hatte, machte ich eben mit und genehmigte mir auch ein bisschen was zu trinken. Andernfalls wäre das ganze vermutlich nicht zu ertragen gewesen.

Dominik suchte ständig meine Nähe, streichelte mich am Arm und brabbelte ständig wie lieb er mich habe.

Mein Bruder war inzwischen auch zur Hochform aufgelaufen und hatte eine Essensschlacht auf der Terrasse angefangen, woraufhin ich mich nach oben flüchtete.
Kurz vor meinem Zimmer holte mich Dominik ein.
Es entwickelte sich soetwas wie ein Gespräch.

"Sayu, ich kenne dich jetzt schon... - wie lange ? - fünf, sechs Jahre? Und ich muss dir einfach sagen, dass ich dich so wahnsinnig sympathisch finde."
Es entlockte mir ein Lächeln.
"Weißt du eigentlich...", fuhr er fort, " dass ich immer, wenn du dazukommst, wahnsinnig nervös werde?"
Daraufhin wurde ich verlegen und höchstwahrscheinlich auch sehr rot.
"Ich bin so froh, dass du die Schwester von deinem Bruder bist..."
Mit dieser Information konnte ich nun wiederum nichts anfangen.
Und noch bevor ich zu Ende gegrübelt hatte, hatte er mir einen Kuss auf den Mund gepflanzt.
Ehe ich es überhaupt bemerkt hatte, war es schon vorbei und er sah mich nur noch - etwas verklärt - in perfekter Hundeblickmanier an.

Wie gern ich ihn doch habe....
Würde ich ihn nicht tatsächlich schon 8 Jahre kennen....wäre er mir vermutlich in seinem Zustand sogar zuwider gewesen.
Aber das war er nicht.

Irgendwann am späten Abend stand plötzlich seine Mutter bei uns im Hof - eine Glucke wie sie im Buche steht. Mein Bruder erzählt mir immer, dass sie Dominik nach wie vor kleinkindhaft behandelt.
Und tatsächlich lief diese kleine, dickliche Frau furienartig zur Höchstform auf und prügelte den armen Dominik nahezu ins Auto, um ihn mit nach Hause zu nehmen.
Uns blieb allen der Mund offen stehen.

Eine Weile später klingelte das Handy meines Bruders.
Dominik war dran und wollte mich sprechen.
Er lallte mir ins Ohr ob ich ihn nicht abholen könne...doch im Hintergrund hörte ich nach wie vor das Kreischen seiner Mom und war lediglich bemüht ihn zu beschwichtigen, um nicht noch mehr Ärger zu kriegen.

Als das ganze Theater bei uns beendet war und ich nochmal meine Mails checkte, entdeckte ich doch tatsächlich, dass Dominik mich in seinem Zustand noch im WKW gesucht und gefunden hatte und mir eine Nachricht geschrieben hatte.
"Ich habe dich voll lieb" mit ungefähr tausend Rechtschreibfehlern.

Heute scheint Dominik jedoch entweder von seiner Mutter ans Bett gefesselt oder generell scheintot zu sein.
Bisher kein Lebenszeichen. Weder bei mir noch bei meinem Bruder.