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Tagebuch nachtsicht
2005-05-03 14:34
Ficken macht traurig!
Der schwarze See zittert im Dunkeln. Ich schließe meine Augen um mich zu konzentrieren, es gelingt mir trotzdem nicht, etwas zu empfinden. Nur die Kälte. Auf dem Steg, nachts, allein, an einem Freitag. Man könnte weggehen, in die Stadt. Feiern, nur weiß ich nicht was. Es ist im Grunde gar nicht so verkehrt, niemanden mehr zu kennen. Diesen Gedanken jedoch kenne ich schon länger, vielleicht hat er mich gerettet, vielleicht auch dazu beigetragen, dass ich kein Bedürfnis nach Nähe in mir finde. Man kann einfach abwarten, den Rest erledigt die Vergänglichkeit. Essen und trinken, scheißen und pissen, schlafen und wachsein ewig im Wechsel. Die Frage nach dem Warum ist zu naiv.

Seit ein paar Tagen kein Orgasmus, meine Fantasie ist tot, ich habe alles durch. Hinter dem Horizont ist die Sonne vergraben und nach wenigen Zügen wird mich die letzte Zigarette verlassen, es ist gewiss auch ohne auszuhalten. Schweigen. In solchen Momenten gibt es keine Angst, alles ist in seiner Ordnung. Ganz nah vor mir treibt ein Fisch auf dem Wasser, wahrscheinlich wurde er von einem größeren angegriffen, seine hintere Hälfte ist zerfleischt, eher zerfischt, einige Organe sind erkennbar, aber nicht mehr benennbar. Ein Artgenosse schwimmt aufgeregt um ihn herum, möglich, dass es ein guter Bekannter war. Ich werfe den Zigarettenstummel ins Wasser und bilde mir ein kurzes Zischen ein, das tote Tier habe ich verfehlt.

Auf dem Weg zurück ins Haus zertrete ich ein paar Blumen, nichts passiert. Nichts passiert, denke ich noch mal, weil mir nichts anderes einfällt. Ohne Zuschauer konnte ich nie einen Grund dafür finden, beim Laufen meine Arme selbst zu bewegen, wozu soll das gut sein. Sie hängen genauso traurig und nutzlos herunter wie mein Schwanz. Mittlerweile ein Reservist der Sperma-Armee, er könnte genauso gut an einem Baum kleben oder an Rainer Calmund, nur müsste ich mich dann eben hinsetzen beim Pissen.

Den größten Teil meines Lebens verbrachte ich auf der Jagd nach den modischsten Trends und der trendigsten Mode. Mein Feldstecher die Zeitschriften, mein Gewehr das Geld. Was ich davon habe? Beachtlich viele CDs zum Beispiel, ohne mich erinnern zu können, welche von denen man gut finden soll, ich selbst mag Musik nicht besonders. Das war im Grunde auch nie ein Problem, der Tausch (das Zurückstellen) eigener, sowieso ständig fluktuierender Meinungen gegen gesellschaftliche Beförderung ist kein schlechter. Das ist ja der Sinn von Meinungen: da sie sowieso keinen Anspruch auf Wahrheit haben, sondern einzig die Komplexität erträglich machen sollen durch oft idiotische Verallgemeinerungen und Verzerrungen, muss das einzige Kriterium für die Auswahl eigener Ansichten der Nutzen für das eigene Leben sein. In dem Fall, dass etwas mit Ernsthaftigkeit behauptet wird, macht man sich so lange über einen Ausspruch lustig, bis er derartig verclownt jeden Restwert verliert.

Auf diese Weise fiel es mir nicht schwer, breite Stimmungsschwankungen mit der Walze der Belanglosigkeitszerredung zusammenzupressen zu einem neutralen, sorglosen Grundgefühl. Große Begeisterungen, große Qualen und großer Einsatz für irgend etwas wurden als Peinlichkeiten verworfen, Emotion und Standpunkt bietet Angriffsfläche, ich wollte unanfechtbar sein, über den Dingen stehen. Heute stehe ich neben Dingen, neben mir, denn die Walze kam nie zum stehen. Angetrieben von der Angst, ausgelacht werden zu können hat sie alles zerstört und eine Öde hinterlassen, im Inneren und um mich herum ist es sehr still geworden.

Schlüssel rein, Schlüssel drehen, Tür auf, Haus betreten. Erschöpft läuft mein Körper auf die Couch zu und setzt sich vor den Fernseher, ich habe nichts dagegen. Erst nach über einer Stunde bemerke ich, dass er nicht angeschalten ist, daran hat meine Gewohnheit dieses Mal nicht gedacht. Auf dem Tisch liegen alte, bröselige Kekse, aber die kann man ja immer essen. Zwei davon in den Mund, sie schmecken kaum, wahrscheinlich haben sie das auch nie, na ja es sind bloß Kekse, da ist es egal. Blick nach rechts, Blick nach links, nichts bietet sich an, was die Stunden bis zum Einschlafen überbrücken könnte. Doch noch in die Stadt? Ja. Auch wenn keine Entscheidung wirklich von Bedeutung ist, so muss man manchmal “so tun als ob“ und Strukturen schaffen, denn Chaos wühlt auf und das ist bekanntlich für gar nichts gut.

Also wieder heraustreten, Tür zu, Schlüssel rein, Schlüssel drehen. Der Taxifahrer grüßt murmelnd und lässt erahnen wie viele Fahrten er diese Nacht hinter sich gebracht hat, zu viele jedenfalls, um Ruhe bewahren zu können. Wo ich hin will möchte er wissen und ich auch. Da ihm die Antwort “in die Stadt” zu unkonkret ist, stellt er die gleiche Frage einfach noch mal, allerdings wesentlich erboster. Sein Gesicht verzieht sich so stark, dass die Brille fast herunter fällt. “Weberplatz” sage ich, er nickt, setzt den Zähler an und wir fahren los. “Wir”, fällt mir dabei auf, habe ich seit Monaten nicht mehr benutzt, schade dass es jetzt gedanklich mit einem unangenehmen Taxifahrer entjungfert wurde. Meine Augen richten sich auf ein schwarzes Gemisch hinter dem Beifahrerfenster.
1. WIR gibt es nicht, denn unsere Körper sind getrennt, vorrübergehende neuronale Assoziationen zwischen ICH und einem anderen Menschen existieren nur im Kopf, sie sind nicht zwischen UNS messbar sondern bloßer Ausdruck des Bedürfnisses eines Einzelnen mit seinen nach und nach verkümmernden Organen nicht allein auskommen zu müssen
2. WIR gibt es, denn nach dem Sterben zerfallen unsere Körper und vermischen sich ununterscheidbar (entweder direkt im Massengrab, oder indirekt ... die Kreisläufe der Natur)
3. Aus 1 und 2 folgt: WIR leben und sterben allein und sind zusammen tot.
“Was reden Sie denn für Mist?” höre ich meinen Chauffeur raunzen, wenn man oft mit sich selbst spricht kann sowas vorkommen. Er stellt das Radio lauter, ich das Nachdenken ein. 30 Minuten später ist es kurz nach 2.00 Uhr, ich werde ihn sicher nie wieder sehen, sage aber trotzdem etwas ähnlich klingendes.

Weberplatz. Vereinzelte Menschengruppen laufen zäh aus verschiedenen Bars, meine Entscheidung fällt auf das “Hotel Seeblick” (es gibt überhaupt kein Gewässer in der Nähe) mit der Sicherheit, auf nichts blicken zu können, höchstens zu tief in etwas, und zwar in ein Glas. Die Zeit bis zur Bestellung vertreiben mir zwei Männer am Nebentisch in bunten Hemden, Gesprächsthema: ein Bekannter “sitze” weil er sein Mindestalter für die Geschlechtspartnerwahl zu weit herunter geschraubt hätte, noch dazu sei es die Tochter einer Nachbarin gewesen, vielleicht auch der Sohn, die beiden Weintrinker reden stets von einem “Kind”. Ein Kellner kommt, ich bin bedient. Schluck. Schluck. Stopp. Obwohl sich “Hotel Seeblick” weder als gewöhnungsbedürftig, noch gewöhnlich oder bedürftig herausstellt, ist es mir ebenso fremd wie die Kleidungsart meiner Tischnachbarn, im übrigen sprechen diese nach wie vor von dem “widerlichen Vorfall”. Dabei schmücken sie ihn bildlich bis ins Detail aus, ich vermute harte Schwänze unter ihrer Tischdecke, trotz lockerer Urlaubsoptik traut sich keiner verdeckt Hand anzulegen, und um nicht in Versuchung zu geraten, klammern sich alle zwanzig Finger an zwei halbleeren Gläsern fest. “Ja dann hat er sie gelockt mit ...” Bitte nicht mit Süßigkeiten, dass wäre zu klischiert und ruft das gleiche “Oh nein wie bescheuert” Gefühl herbei wie die verlässlich stürzenden, vom Mörder verfolgten Frauen in Horrorfilmen. Durchatmen, es waren keine Süßigkeiten, sondern die Überredungskünste eines “Hilfebenötigenden“. Keller, Schlag, Knebel. Schnitt.

Vor mir liegt die Getränkekarte geöffnet, meine Wahl: Sex on the beach, bitte. Wo schon Seeblick versprochen wird, sollte das ja wohl möglich sein, anstelle dessen gibt es einen gleichnamigen Cocktail. Prost. “Zwei Männer, die gern dabei gewesen wären” denke ich, ihre Augen leuchten hinter der Maske der Anklage. Womöglich kommt ihr irgendwann zu eurer Chance, glücklich, Freunde, wird euch das auch nicht machen. Sex on the beach with a child.

Ich werfe mein Glas um und gehe raus, ich bin sehr müde. “Die Welt dreht sich zu schnell, so dass ihr schlecht wird“, kommt es mir hoch, “vielleicht kotzt sie deswegen Menschen aus wie diese Männer und mich“.

Kommentare


unbekannt
12:58 08.07.2005
Wow... einfach nur gut.
Mehr davon, in grossem Ton ;)


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unbekannt
22:55 25.05.2005
Ich lese dein Diary zum ersten Mal und beeindruckt von deinem Vokabular. Die Wörter in so einer wundervollen Art und Weise aneinander zu ketten und dessen Bedeutungen durch mögliche Adjektive zu ivertiefen... ein Genuß für jeden Leser, der auch nur Ansatzweise der deutschen Sprache mächtig ist.

@dusk and Rittto: Ich denke nicht, dass ihr euch ein Urteil über diese gefühlsüberfüllten texte machen dürft. Es ist euch einfach nicht gestatten zu entscheiden, ob ein Text nun depressiv ist oder nicht. Ich kenne euch nicht und ich wage mich auch nicht ein Urteil über euch dazulegen, aber dieser Text ist sprachlich gesehen ein Traum und auch der Inhalt spricht aus einer Seele. Vielleicht sollten manche Menschen erst denken, bevor sie sich schreiben, womit ich euch in Keinerweise angreifen möchte.

Und eine Frage an den Verfasser. Schreibst du aus einer bestimmten Intention?


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unbekannt
12:47 08.05.2005
..ich verneige mich! Ich käme mir mehr als schäbig vor, einfach die Worte: "unbeschreiblich schön, wahnsinnig gut" von mir zu geben. Deshalb beuge ich mein manchmal ziemlich wirr denkendes Haupt in Ehrfurcht...
B.S.


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18:51 06.05.2005
kennt ihr das gefühl euch unbedingt ausdrücken zu wollen weil euch ein unbefriedigtes gefühl begleitet was unbedingt irgendwelche Konversationsbrocken aus euch rauskitzeln möchte,aber ihr findet nicht die passenden Worte um euer anliegen angemessen auszuschmücken und zu präsentieren?So geht es mir.Und wenn ich lese was hier geschrieben wird überkommt mich eine Angst, die mir sagt ich sollte besser gehen und mich aus Dingen heraus halten die für mich nicht geschaffen sind.Sprich ich werde diese Seite nie wieder besuchen :/
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unbekannt
18:22 06.05.2005
hi nachtsicht, wir rezensieren hier deine Stories. Wow! So was hab ich in drei Monaten diaryz nicht erlebt. hau dir 'n Whisky rein ...
@dusk:
Zu deinem letzten Kommentar: Nicht "zuversichtlich" oder "optimistisch", das trifft es nicht. Es gibt hier schlicht nichts zuversichtliches.
nachtsicht schreibt kraftvoll, ehrlich, brutal, trocken, derb und geradeaus. Punkt. Das g’fällt mir. Und vor allem sind die Stories ohne Klugscheißerei und „erhobenem Zeigefinger“.
Das alles erinnert mich halt an Buk’s Protagonist Henry Chinaski. Dirty Old Man beschreibt sein beschissenes Leben trotz allem Dreck mit dieser derben menschlichen Wärme, die's so billig nur am/im Abgrund gibt.

Zu deinem vorletzten Kommentar: Kennst du Hartz-4-Empfänger, die solche Stories lesen? Ich nicht. Bei denen gibt's doch nachtsicht bald jede Nacht live. Aber Auf jeden Fall ist nachtsicht auch nichts für Klosterschwesterschülerinen, Deutschlehrer und kotzende Mittelschicht-Pubies.
Da frag' ich mich schon auch, woher die vielen Favs kommen.



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10:21 05.05.2005
Hey, ich habe nie behauptet, dass die Texte nicht auf ihre eigene Art und Weise so etwas wie schön sind (ich scheue mich in diesem Zusammenhang allerdings etwas vor diesem Wort). Aber so weit zu gehen, sie als zuversichtlich oder optimistisch zu bezeichnen würdest Du doch wohl auch nicht gehen, oder?
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unbekannt
10:45 03.05.2005
@dusk: ich finde diese texte überhaupt nicht depressiv. da gibt es andere hier drin.

ist es nicht eher so, dass hier gezeichnet wird. kleine geschichten. kleine geschichten der welt. und doch so groß und liebevoll gezeichnet, wie es nur ein empfindendes Hirn eben empfinden kann. die zarten, leichten und oft von liebe durchmischten töne in der groben, dreckigen fleischigen welt sind es, die unsere existenz doch erst erträglich, ja sogar schön, werden lässt.

Von daher, nachtsicht: wenn ich schon am fremdbloggen und fremdlesen bin: Ich geh' heut' Abend in den Keller, in irgendso 'nem versyphten Karton - seit Jahren nicht gelesen - sind ein paar Bukowskis drinne.


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08:47 03.05.2005
Ich mag Deine Texte. Aber manchmal frage ich mich, warum alle auf depressive Inhalte stehen, wo doch die meistens von uns schon depressiv genug sind. Vielleicht liegt es auch daran, dass es beruhigend ist, wenn es Leute gibt, denen es schlechter geht als uns selbst. Ob nun erfunden oder nicht.
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unbekannt
07:14 03.05.2005
danke! endlich!

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2005-05-03 14:34