Willkommen auf Tagtt!
Friday, 26. April 2024
Tagebücher » MI » News, Bilder, Videos - Online
Tagebuch MI
2006-03-10 09:44
Entscheidung

Schneegestöber, aber ich finde einen überdachten Fahrradabstellplatz am S-Bahnhof. Das ist oft nicht einfach, zumal wohl die Hälfte der Räder "Dauerparker" sind und daher die wenigen überdachten Abstellplätze schnell besetzt sind. Heute wollte ich auf jeden Fall die S-Bahn um 8:05 bekommen. So bin ich zeitig am Institut. Denn heute mittag möchte ich früher Schluß machen. Am vergangenen Wochenende habe ich Gäste am Instrument betreut, und diese Zeit möchte ich zumindest ausgleichen, indem ich mal einen Tag früher nach Hause gehe. - Heute.

Aber was ist das? Da ist noch eine kleine Tasche auf meinem Gepäckträger, die von meinem Sohn. Den habe ich wie morgens üblich zur Schule gebracht. Heute macht er einen Ausflug in ein Sägewerk. Er hatte trotzdem auch seinen Schulranzen dabei. Weil er aber noch einen Ausflug macht, hat seine Mama ihm das Pausenbrot und ein Getränk in einen kleinen Rucksack gepackt, daß er nicht den Ranzen mitschleppen muß.

"Scheiße!" fluche ich laut. Ich war in diesem Moment einfach so wütend, auf mich, auf meinen Sohn, auf die Welt. Ich könnte losheulen. Ich gucke in die Tasche: Nutellabrote, Multivitaminsaft und ein Trinkjoghurt. Und jetzt müßte ich eigentlich den Krams meinem Sohn hinterherbringen. Müßte mit dem Rad wieder durch das Schneegestöber bis zur Schule, platze dort vermutlich in die erste Unterrichtsstunde hinein. Und verpasse meine S-Bahn und werde später am Institut sein. Und das wird es mir wieder erschweren, am Nachmittag mal früher zu gehen.

Gedanken: bin ich denn immer für alles zuständig? Muß ich immer an alles denken? Muß immer ich von meinem Leben Dinge abschneiden, damit alles funktioniert und klappt? Muß immer ich zurücktreten, damit vordergründig alles läuft? Es ist ja nicht nur mit der Familie, den Kindern, so, es ist bei der Arbeit so, es ist überall so. Überall! -

-

Ich wollte die Tasche nicht auf den Gepäckträger klemmen, J. hatte mich gefragt, ob ich die Tasche aufs Fahrrad nehmen könne. Klar kann ich das. Habe ich schon einmal gemacht. Zum Beispiel hatte ich kürzlich auch mal seine Sporttasche auf den Gepäckträger genommen, und die hatten wir dann auch auf dem Fahrrad vergessen. Es war genau die gleiche Situation, nur regnete es da, oder es nieselte. Ich habe auch geflucht, habe mich dann aber wieder aufs Rad gesetzt und ihm die Tasche zur Schule gebracht. Er kann schließlich nicht ohne Sportsachen am Sportunterricht teilnehmen.

Man sieht das einfach nicht. Ich verabschiede mich von ihm immer nach vorne weg. Und wenn ich ihn dann sehe - so mit seinem Schulranzen auf dem Rücken - dann komme ich nicht auf die Idee, daß ihm etwas fehlen könnte. Und auch, wenn es nur ein paar Minuten her ist, daß wir seine zusätzliche Tasche auf den Gepäckträger meines Fahrrads geklemmt haben, weiß es doch in diesem Moment offenbar keiner mehr. Ich denke nicht dran, er auch nicht.

Ich stand eine Weile da. Ich war vor allen Dingen wütend und habe geflucht. Nein, diesmal nicht, dieses Mal nicht. Doch, ich muß es ihm bringen. Er kann doch nicht ohne sein Pausenbrot und ein Getränk auf einen Ausflug gehen. - Kann er nicht? Es ist furchtbar. Alle anderen Kinder holen in der Pause ihre Essensachen heraus, nur J. wird nichts dabei haben. Er wird bestürzt sein, vielleicht traurig. Ja, dann sollen ihm die anderen um Herr Gott's Willen halt was abgeben!

Ich konnte es nicht. Ich bin keine 100%-all-inclusive-Versicherung. Dann muß es halt so sein, dann muß er es halt auch mal lernen, an diese Tasche zu denken, die er von mir möchte, daß ich sie auf den Gepäckträger tue. Er muß es halt lernen. Und wenn es nur so geht, dann ist das halt so. Ich packte den Rucksack in meine Fahrradtasche, verschloß sie und ging in den Bahnhof.

Ich hatte auch noch nichts gefrühstückt. Das ist das Problem. Wir frühstücken zu Hause meistens nur Kakao und Kaffee, der Hunger scheint bei den Kindern morgens nicht sehr groß zu sein. Meist esse ich eine Schale Cornflakes. Wenn ich das nicht schaffe, hole ich mir an der S-Bahn ein Croissant. Heute morgen war es auch so. Da zu Hause nicht gegessen, holte ich mir ein Croissant. Erst hatte ich überlegt, ob ich aus solidarischen Gründen auch hungern sollte. Aber wem würde das denn nützen?

In der S-Bahn esse ich das Croissant und schwanke zwischen Entsetzen über meine Nicht-Tat, und Rechtfertigungen, warum ich es nicht tat. An dem Rucksack für J. befindet sich ein Gummiband, das andere Ende war an meinen Gedanken befestigt, und nun zieht sich dieses Gummiband immer länger und länger. Und ich sitze in der S-Bahn und habe das Gefühl, eigentlich bei dieser Tasche sein zu müssen.

Ich könnte E. noch anrufen und sie bitten, die Tasche noch zur Schule zu bringen. Aber warum sollte E. auslöffeln, was J. und ich verbockt haben? Nein, sie hat ihre Schuldigkeit getan. Sie soll nicht mit dem Wissen durch den Tag gehen, daß unser Sohn ohne Pausenbrot bei einem Ausflug ist.

Nein, es ist jetzt nun einmal alles so. Ich habe mich dagegen entschieden, und jetzt ist es so.

Michael

Kommentare

Noch keine Kommentare!
Kommentieren


Nur für registrierte User.

MI Offline

Mitglied seit: 02.04.2005
DE mehr...
Wirklich beenden?
Ja | Nein

2006-03-10 09:44