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2008-08-20 13:12
mitleid ist nicht mitgefühl
neulich im zug. ich komme gerade von der uni. neben mich setzt sich ein mann mit einer frischen naht an der augenbraue. seine kleider sind wahllos zusammengewürfelt, wohl eher nach praktischen denn nach ästhetischen kriterien gewählt, aber immerhin sauber. er riecht stark nach knoblauch. ich sehe selbst nicht allzu gut aus. unrasiert, ausgewaschene jeans, dreckige schuhe. meine jacke ist so abgetragen, dass das futter schon an einigen stellen zu sehen ist. unsere äußere verwandtschaft lässt mitleid in mir aufkeimen. ein schaffner betritt das abteil und untersucht unsere fahrkarten sehr genau. im gegensatz zu dem mann neben mir könnte ich diese rolle jederzeit wieder ablegen. gerade noch habe ich mit meinem heruntergekommenen äußeren kokettiert. die oberflächlichen weil abweisenden reaktionen anderer fahrgäste haben in mir ein gefühl der überlegenheit geweckt. jetzt kommt mir diese vorgetäuschte armut wie hohn vor.
ich betrachte den mann genauer. er trägt das wettergegerbte gesicht eines säufers, der oft im freien übernachtet. beim verstauen seiner abgewetzen tasche rempelt er mich aus versehen an, entschuldigt sich mehrfach. es wirkt, als ob er ärger aus dem weg gehen will. fast ein wenig unterwürfig. seine verletzung scheint frisch zu sein. ich will ihm etwas gutes tun. will ihm zeigen dass nicht alle menschen so herzlos und gleichgültig sind. vielleicht auch mein schlechtes gewissen beruhigen. kalte luft weht uns von den offenen fenstern trocken ins gesicht. in meinem rucksack sind noch zwei flaschen becks von gestern abend. während ich mir die eine aufmache biete ich ihm großzügig die andere an. ein angebot zur verbrüderung. er lehnt mit einem resignierten lächeln ab
ein mieses gefühl überkommt mich...ist er dabei trocken zu werden und ich habe ihn gerade in versuchung geführt? sein blick ruht unruhig auf meiner flasche. das becks ist nach wenigen schuldbewussten zügen leer und ich wende mich ab, um nicht sehen zu müssen, ob er seine antwort bereut.
nach einiger zeit hohlt er ein zerkratztes handy aus seiner jacke: "hallo schatz?" es klingt laut, ein wenig aufgesetzt. "holst du mich gleich ab süße? bin in 5 minuten da....auf gleis 3. ja, ich freu mich auch auf dich..." mich beschleicht das gefühl, dass er versucht mir normalität vorzuspielen. vielleicht weil er mein mitleid bemerkt hat und ihm das unangenehm ist? inzwischen argwöhne ich, ob überhaupt jemand am handy mit ihm spricht. die ganze situation tut mir unheimlich leid.
als der zug im bahnhof einfährt, steht nur eine einzige person am gleis, aber ich kann sie von meinem platz aus nicht gut erkennen. der mann verabschiedet sich von mir und steigt aus. als der zug weiter fährt, sehe ich sie. es war wohl tatsächlich jemand am handy. die für ihr alter sehr hübsche frau nimmt den mann herzlich in ihre arme und küsst ihn. obwohl sie arbeitskleidung an hat erkennt man, dass sie eine gute figur hat. der zug fährt langsam wieder an und die beiden gehen hand in hand auf einen schmalen traktor zu, der in der böschung steht. im vorbeifahren schnappe ich den namen des bahnhofs auf - rüdesheim.
ich weiß nicht ob ich mich schämen oder lachen soll. was muss sich der weinbauer über das mitleid des runtergekommenen studenten gewundert haben

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2008-08-20 13:12