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Friday, 29. March 2024
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Tagebuch staunistauni
 1986-11-29 hh:mm
Der eiserne Vorhang bröckelt

 

Ende des Jahres 1986 gab es für Reisen in die BRD eine Lockerung der Reisebestimmungen.

Elviras Tante Elli in Hamburg war schwer erkrankt und es sah fast so aus, als ob es dem Ende zu ginge. Bruder Hans-Jürgen schickte aus Hamburg eine ärztliche Bescheinung über den Gesundheitszustand der Tante und Elvira beantragte daraufhin eine Besuchsreise. Einen Tag vor der geplanten Reise war sie zum Volkspolizei-Kreisamt bestellt, um die Entscheidung der Staatsmacht zu hören. Stundenlang wartete sie im schmalen Flur. Dort erlebte sie wieder mal DDR pur. Die beschäftigten Behördenangestellten liefen provokativ mit Netzen voller Bananen an den Wartenden vorbei. Wahrscheinlich hatten sie eine Sonderzuteilung erhalten. Viel schlimmer aber war, was Elvira Scheffler noch erlebte. Vor ihr wurde ein junger Mann, der mit seiner Mutter und einem großen Grabschmuck auf die Genehmigung wartete, aufgerufen. „Die Genehmigung für Ihre Mutter ist noch nicht da, die kann erst am nächsten Tag fahren“ rief eine der Beamtinnen dem ungläublich schauenden zu. „Die Beerdigung ist doch schon morgen“, schluchzte die alte Dame nun. Ohne eine Antwort zu geben verschwand die Polizistin in ihrem Büro.

Nach dieser kalten Dusche glaubte Elvira gar nicht mehr an die Genehmigung ihrer Reise. Doch, oh Wunder, sie durfte für sechs Tage nach Hamburg fahren. Mutter Lotti freute sich riesig, brauchte sie doch diesmal nicht alleine zu reisen. Die ganze Familie war total aufgeregt.

So fuhr Elvira dann an einem Tag im November 1986 mit ihrer Mutti das erste Mal in ihrem Leben in den anderen Teil Deutschlands. Vom ersten Meter westdeutschen Bodens an nahm sie alles, was sie nur sehen konnte, voll in sich auf. Soeben waren die Passkontrolleure der DDR aus dem Zug gestiegen und der Zug war vom stacheldrahtumzäunten Bahnhof Schwanheide abgefahren, da wurden die eben noch stummen, in sich gekehrten Fahrgäste gesprächig. Elvira war innerlich wie erlöst, aber sie beteiligte sich lieber nicht an den Gesprächen. Mutter Lotti, die als Rentnerin schon Erfahrung hatte, flüsterte ihrer Tochter ins Ohr: „Vorsicht, im Abteil sitzen oftmals Stasileute!“

So schaute Elvira weiter zum Abteilfenster hinaus und ihr fielen Dinge auf, die sie so in der DDR noch nicht gesehen hatte. Als erstes bemerkte sie ein riesiges Baumhaus und dann beobachtete sie, dass die einzeln auftauchenden Häuser, sogar die Schornsteine von kleineren Fabriken, Farbe besaßen, selbst die Telegrafenmasten waren angestrichen. Je näher sie der Großstadt kamen, um so bunter wurde es. Statt der bekannten roten Plakate mit politischen Parolen, sah man überdementionale, kunterbunte Werbeplakate.

Am Hamburger Hauptbahnhof nahm Hans-Jürgen Mutter und Schwester herzlich in die Arme. Endlich konnte er seiner Schwester zeigen, wo und wie er seit dreißig Jahren lebte. In der kurzen Zeit von vier Tagen taten Schwägerin und Bruder alles, um ihr soviel wie möglich zu zeigen. Da sie die Engpässe in der DDR kannten, setzten sie ihr all das vor, was sie zuhause nicht auf den Tisch bringen konnte. Kleinigkeiten, wie der Weg mit ihrem Bruder frühmorgens zum Bäcker, waren für Elvi schon ein großes Erlebnis. Wie konnte es nur sein, dass man ohne anzustehen so viele schöne Dinge kaufen konnte?

Gleich am ersten Tag fuhren sie ins Pflegeheim zu Tante Elli. Die alte Dame war geistig noch rege, sie konnte aber das Bett nicht mehr verlassen. Sie lag in einem sauberen Zweibettzimmer. Die Betten waren mit freundlicher hellgelber Bettwäsche überzogen. In ihrem ebenfalls hellgelben Nachthemd wirkte die alte Frau gar nicht so schwer krank. Die Leiterin des Heimes und das Personal waren so nett, als wenn sie selbst Angehörige der Familie wären. Sie baten die Besucher kurz heraus und informierten sie behutsam vom schweren Gesundheitszustand der Tante. Als Elvira wieder auf der Straße stand, musste sie an das enge Vierbett-Sterbe-Zimmer ihrer Schwiegermutter im Pflegeheim Dresden und dessen lieblose Ausstattung denken. Sie brachte kein einziges Wort heraus und ungehemmt liefen ihr die Tränen übers Gesicht.

Später fragte sie dann ihre Schwägerin Ingrid, ob das Pflegeheim nur für Privatpatienten sei. Ingrid sagte darauf, dass Tante Elli, die ziemlich vermögend war, das schon alles selber bezahlen müsste. Aber die andere Dame im Zimmer bekomme die gleiche Behandlung wie Tante Elli und für sie bezahlt das alles die Kasse.

An den nächsten Tagen unternahmen sie eine Hafenrundfahrt, später schauten sie sich vom Fernsehturm die schöne Stadt von oben an. Dabei sah Elvira, dass Hamburg mit seinen vielen Grünflächen viel schöner war, als sie sich die Hafenstadt vorgestellt hatte. Sie sah die ersten Penner in Altona, aber auch die reichen Villen an der „Alten Elbe“.

Im „Tafelhaus“ am Hafen, von dem Elvi zum Gaudi ihres Bruders meinte, dass die vornehme Ausstattung früher nur Königen vorbehalten war, aßen sie zu Mittag. Die Kaufhäuser mit ihrem Überangebot von Waren konnte Elvi kaum ertragen. Es war einfach zuviel für einen Menschen, der jahrelang nur immer das Gleiche gewohnt war. Sie zählte überall z.B. Krawatten, Wurstsorten und Zeitschriften und dachte dabei an den in der DDR so schwer zu bekommenden „Eulenspiegel“.

Bei einer nächtlichen Fahrt durch die Großstadt fielen Elvira die vielen Hochhäuser der Banken und Versicherungen auf, in denen jedes Fenster hell beleuchtet war. „So eine Verschwendung!“ dachte sie und dabei fiel ihr der Kampf der „Sozialistischen Kollektive“ um die „Energie-Einsparungsprämie“ ein.

Abends im Bett konnte sie noch lange nicht schlafen und schaute sich im „Kurzraffer“ Kataloge an, las ein in der DDR verbotenes Buch „Das vergessene Dorf“. Gern hätte sie dieses Buch von Konsalik mit nach Hause genommen, doch sie hielt sich lieber an die Bestimmungen. Ingrid hatte für ihre Schwägerin einen Besuch in einem „Sonnenstudio“ bestellt. Auch das war ein erstmaliges Erlebnis für Elvis gestressten Körper und für ihre Seele.

Viel zu schnell waren die Tage vorbei und bald wurde sie freudig von ihrer Familie am Bahnhof in Dresden abgeholt. Durch die vielen Erlebnisse und den wenigen Schlaf war sie wie aufgezogen, sie erzählte und erzählte, während sie die Mitbringsel für jeden auspackte.

In der Arbeit hielt Elvira sich mit ihren Schwärmereien, so weit sie es konnte, zurück. „Falsche Ohren“ hätten ihr sonst die nächste Reise vermiesen können.

 

 

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