Reisebericht vom Tod
Hachja, so viele Gedanken. Mein Vater ist genau, auf den Tag genau 7 Jahre nach meinem ersten tag in der neuen Welt gestorben. Am 9. Januar 2000 brachten meine Eltern mich ins fremde Land, ins Mädcheninternat.
Papa verteilte zur großen Freude meiner neuen und mir erstmal sehr suspekten Mitbewohnerinnen Zigaretten an alle. Er sah toll aus. Hilfiger-Jacke, modern, sportlich aber nicht auf jung gestylt. Fröhlich, lustig.
Der Gedanke an diesen Abend war schon lange vergessen, kam jetzt gerade erst wieder.
Oft ist mir zum Heulen zumute. Aber ich heule nicht. Warum? Weil Angst davor ahbe gar nicht mehr aufhören zukönnen. Die mühsamen verwaltenen und sortierten Schmerzen wieder durcheinander zu bringen. Alles flöge aus seinen Schubladen. Das Aufräumen würde mich wieder Monate kosten. Monate die ich zu nichts fähig bin. Davor habe ich Angst.
Weil in solchen Zeiten meist alte Freunde klopfen.
Aber ich bin jetzt normal. Ich kotze nicht und hungere nicht, ich schneide mir meine Arme nicht auf und habe keine Depressionen.
Ich bin jetzt normal. Ich kämpfe zwar oft mit mir, mich nicht zu isolieren, mit mehr oder weniger großem Erfolg. Aber immerhin.

Ich versuche immer wieder zu begreifen, dass ich meinen Vater nie wieder sehe. Noch ist es nur ein Gedanke, der zwar bewusst gedacht und erlebt wird, nur fühlt es sich noch nicht richtig "angekommen" an.
Und, ehrlich gesagt, ich habe eine riesengroße scheiss Angst vor dem Zusammenbruch. Eine gute Bekannte meines Vaters sagte am dem Abend, an welchem wir mit ihr und einem weiteren sehr guten Bekannten Essen gingen, dass die ersten 2-3 Monate nicht schlimm wären, aber dann würde es fürchterlich. Bei ihr war es auch so als sie ihre Eltern verlor.
Gut, die Frau ist Ende 40 und eine höchst seltsame Person. Trotzdem hätte ich ihr an dem Abend gerne ins Gesicht geschrien. Sie gefragt ob sie meint das mir das helfen würde? Oder ob sie zu den Menschen gehört, die es leichter finden eigene Schicksalsschläge zu ertragen indem sie andere Menschen runterziehen.
Wie auch immer.

Ich wollte schon länger darüber schreiben. Über meinen Vater, meine Angst, meine Gefühle. Aber ich verdränge es immer wieder. Verschiebe es.
Denn wenn es geschrieben oder ausgesprochen ist, ist es real. Nicht nur in meinem Kopf, sondern in der Welt. ich kann darauf angesprochen werden. Angesehen werden mit diesenn tränenheischenden Blicken die sagen "Komm, wein doch endlich! Lass es raus"...aber ich lasse gar nichts raus.
Wenn ich heulen würde wäre es nur aus Selbstmitleid. Ihm geht es doch jetzt gut. Endlich ist er wieder bei seinen Eltern. Endlich sieht er seinen Vater wieder. Und seine Mutter, seine Familie. Und die Hunde.
Das klingt alles kitschig. Klingt nach dem Tod von Herrn Jedermann. Nach "Nu isser bei Gott"...
Ich freue mich so sehr für ihn. Das klingt bestimmt noch bescheuerter, aber es ist wirklich und wahrhaftig so. ich freue mich für meinen Vater als hätte er ne Karibikreise gewonnen.
Mit dem Unterschied, dass ich mein ganzes Leben darauf warten muss, endlich den Reisebericht erzählt zu bekommen.