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Tagebuch MI
2006-05-15 17:59
Zur Meinungsfreiheit
Wie es um die Meinungsfreiheit und Demokratie in Deutschland und im Westen allgemein bestellt ist, läßt sich an den Reaktionen auf den Brief des iranischen Präsidenten Ahmadinejad an den amerikanischen Präsidenten G. W. Bush ablesen.

Was sind denn die Reaktionen darauf überhaupt?

Es gibt immerhin noch Internetforen, die über diesen Brief sprechen und ihn nicht einfach als "belanglos" abtun, wie die (doch so gebildete und musisch begabte) amerikanische Außenministerin C. Rice.

Oder die ihn als "ausschweifend", "inhaltlich falsch" und auch noch als "falsch adressiert" befinden, wie die Systempresse a la SPIEGEL in seiner "Analyse".

Nein, es gibt noch Menschen, die diesen Brief mit offenen Augen und offenen Herzen lesen (können).

Nur: wer sind diese Menschen? Wo sind sie? In meinem persönlichen Umfeld kenne ich keinen einzigen, der sich mal die Mühe gemacht hätte, diesen "ausschweifenden" Brief eines "Verrückten", einen "neuen Hitlers", eines "Dorfschullehrers und Marionette der Mullahs" (in einem Land, wo sich die Menschen noch steinigen und Dieben die Hände abgehackt werden und was man so alles hört) mal zu lesen. Geschweige denn, sich darüber eine Meinung zu bilden und über diese zu sprechen.

Womit sie sich in bester Gesellschaft mit dem bekannterweise bibliophoben amerikanischen Präsidenten befinden, der das ja auch nicht für nötig hielt, sich mit den Gedanken seines selbsterklärten Kontrahenten zu befassen.

Immerhin: der Brief war 18 Seiten lang. Unvorstellbare 18 Seiten. Wer soll das alles lesen? Wer hat noch soviel Zeit? 18 Seiten eines iranischen Präsidenten: das sind 18 Seiten zuviel.

(Man vergleiche das mit den völlig ausufernden Justiz- und Parteienpapierkrams, ganz zu schweigen von den Tonnen Illustrierten- und Zeitungspapier, die sich tagtäglich über die Gesellschaft ergießen).

Und jetzt gibt es sogar http://www.welten.net/Monat/aktuelle.htm, die die wichtigsten (ich möchte sagen: die schönsten) Fragen Ahmadinejads fett abdrucken, für Schnelleser sozusagen.

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Kann sich denn so ein iranischer Präsident nicht kürzer fassen? Nein, gar nicht soll er sich fassen, er soll nur tun, was die "Weltgemeinschaft" von ihm erwartet: klein beigeben. Oder er soll machen, was die Kriegstreiber von ihm erwarten: so weitermachen und weiter Anlaß geben, die Kriegsstimmung anzuheizen.

Leider bietet der Brief von Ahmadinejad dazu überhaupt keinen Anlaß. Keine Rede davon, Israel "von der Landkarte zu fegen" (so die offizielle Übersetzung einer Rede-Passage, in der Ahmadinejad die Existenz der israelischen Regierung in Frage stellt). Leider bietet der Brief zu überhaupt nichts Gelegenheit.

Außer natürlich zum Nachdenken. Wer es denn möchte. Zum Nachdenken über viele Dinge, die in den letzten Jahren schief gelaufen sind. Zum Nachdenken darüber, warum ein iranischer Präsident UNSERE Hausaufgaben macht: nämlich unbequeme Fragen zu stellen.

Wer stellt sie noch, die unbequemen Fragen? In meinem persönlichen Umfeld niemand. Dieser Brief ist für einen ganz normalen gehirngewaschenen westlichen Durchschnittsbürger "belanglos". Er ist einfach nicht interessant. Da äußert jemand frei seine Meinung - und das wohl zum Erstaunen aller Beteiligten gar nicht mal schlecht. Doch das interessiert nicht.

Und warum interessiert das nicht? Weil hier niemand mehr an einer eigenen Meinung interessiert ist. Und wer sich für eine eigene Meinung nicht mehr interessiert: was interessiert den schon, ob er diese dann noch frei äußern kann oder darf?

Das ist das eigentlich niederschmetternde Ergebnis des Briefes von Ahmadinejad. Er zeigt nicht nur auf, daß es im "Westen" so etwas wie Meinungsfreiheit nur noch im Disneystil gibt ( = die Freiheit einer Meinung innerhalb einer fest umrissenen Gesamtmeinung, die nicht in Frage gestellt werden darf), sondern daß zu dieser Meinungsfreiheit die Grundlage - nämlich der Wille zur Meinungsbildung und die daraus resultierende Meinungsvielfalt - komplett fehlt bzw. verloren gegangen ist, sollte sie überhaupt einmal existiert haben.

Na ja, macht nichts. Wo es erst gar keine Meinungsbildung zu unterschiedlichen Meinungen gibt, braucht es auch keine Meinungsfreiheit. So einfach ist das.

Michael

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