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Tagebuch MI
2005-12-06 13:59
Weitere Gedanken dazu
Fontane hat das in "Effi Briest" so schön ausgearbeitet, was ich in meinem letzten Eintrag nur andeuten konnte. Die große Frage, nach was ich mich richten soll: nach dem Herzen, oder nach dem Verstand. Das ist leicht gesagt: gehe, wohin dein Herz dich trägt und solche Sachen. Allerdings schwer getan.

In dem Roman selbst gibt Fontane eigentlich keine Antwort auf diese Frage, bzw. er verschweigt sie und läßt den Leser damit allein. Effi, die für ein Leben mit Herz steht, läßt er noch vor ihrem Ende einräumen, daß von Instätten in allem, was er tat und auch ihr angetan hat, recht gehandelt hätte. Selbst, daß er ihre Tochter von ihr ferngehalten hat sei rechtens gewesen. Das solle die Mutter ihn noch wissen lassen, läßt er sie kurz vor ihrem Ableben sagen.

Erst im letzten Nebensatz kommt aber die entscheidende Einschränkung: "Er hat recht gehandelt für einen Menschen, der ohne rechte Liebe ist."

Von Instätten hingegen macht seinerseits die Kertwende: Zweifel kommen ihm an dem Wert seiner Maßstäbe, seine Beamtenkarriere, Anerkennung, Ehre. Was zählt das alles gegen ein einfaches und glückliches Leben, das er sich selbst durch sein eigenes verstandesorientierte Handeln vorenthalten hat?

Was ist das überhaupt, ein glückliches Leben? Ein Tag ohne viel Ärger und mit einem guten Schlaf, das ist doch ein Stück Glück. Alles das, dem er sein Leben lang nachgeeifert hat, hätte damit nichts zu tun.

So läßt Fontane am Ende die beiden Figuren, die eigentlich für das jeweils entgegengesetzte Ende stehen, eine 180°-Kehrtwende machen, womit die Verwirrung komplett wäre. Und das alles ist am Ende nicht nur "ein weites Feld", sondern sogar ein "zu weites Feld".

Wie sich in diesem Feld zurechtfinden? Wer hat das Recht, nach seinem Herzen zu leben, wenn er dabei möglicherweise das Leben eines anderen beeinträchtigt? Aber auch umgekehrt: warum soll es denn gestattet sein, das Leben eines anderen zu beinträchtigen und einzuschränken, nur weil der Verstand die eigene Handlungsweise als korrekt beurteilt?

Es gibt auf diese Fragen womöglich gar keine rechte Antwort. Oder besser: jeder Mensch für sich selbst, sein ganzes Wesen, seine Verhaltensweisen, seine Entscheidungen, das alles IST jeweils die Antwort. Und wenn nun mal ein Mensch "ohne rechte Liebe ist", wie soll er dann nach seinem Herzen leben?

Gibt es das denn eigentlich: Menschen ohne rechte Liebe? Menschen, bei denen es von Anfang an hoffnungslos ist, daß sie jemals nach ihrem Herzen handeln könnten? Sollte das so sein, dann müßte man z. B. den Buddhismus ersatzlos streichen. Dann ist eben nicht in jedem Menschen ein Buddha, dann hat nicht jedes Wesen Buddhanatur.

Sondern dann trifft das nur auf ein paar wenige zu, denen ein Leben nach ihrem Verstand nicht gegönnt ist ("gegönnt" in dem Sinne, daß ein Verstandes-orientiertes Leben - zumindest in erster Hinsicht - einfacher ist: man muß nur machen, was andere auch machen, und lassen, was nicht gerne gesehen wird). Diese wenigen müssen darunter leiden, daß die Großzahl der Menschen "ohne rechte Liebe ist" und es daher völlig sinnlos ist, sich auf liebevolle Weise diesen Menschen zu nähern: sie sterben sogar daran.

In diesem Sinne nutzen Märtyrer möglicherweise nicht viel oder vielleicht gar nichts. Effi ist ja im Grunde auch eine Märtyrerin. Sie geht an Lieblosigkeit zu Grunde. Aber was nutzt das, was ändert das? Auf die Menschen "ohne rechte Liebe", macht das keinen sonderlichen Eindruck. Es mag sie kurz nachdenklich machen, vielleicht sogar schockieren. Es wird sie aber nicht ändern.

Aus dem Gesagtem wiederum folgt, daß wenn man schon dazu "verurteilt" ist, seinem Herzen Vorrang zu geben, weil einem die Verstandesorientierung keine wahre Befriedigung verschafft, sondern nur ein hohles, schales Gefühl bei einem hinterläßt, man sich diesem Drängen nicht entgegen stellen sollte. Es gibt dann zu einem beherzten Leben gar keine Alternative mehr. Leiden wird man so oder so. Aber es ist immer noch ein Unterschied, ob man unter dem Herzensmangel anderer leidet, oder darunter leidet, daß man seinem eigenen Herzen den Ausdruck verweigert.

Michael

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