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Tagebuch MI
2005-10-18 14:42
Unter der Käseglocke
In Anbetracht von kühlem Materialismus, modernem naturwissenschaftlichen Denken und darwinistischer Evolutionslehre einerseits, sowie Religion, Gottesgläubigkeit und Glaubenssysteme andererseits, fühle ich mich zwischen den Stühlen. Einerseits verstehe ich beide Welten und verkehre auch in beiden. Und ich habe auch ein gewisses Auskommen in beiden Welten. Nur stellt sich mir immer wieder die Frage, wie sich das auf einen Nenner bringen läßt. Denn wirklich wohl fühle ich mich weder in der einen, noch in der anderen. Keine bietet mir eine Art geistige Heimat.

Augenscheinlich widersprechen sich die Welten. Die eine lehnt jeden Gedanken an eine höhere Macht ab, glaubt nur, was sie sehen, messen und zählen kann. Für sie ist Glaube eine Zwischenstufe, eine Theorie, die entweder bestätigt und damit zu Wissen wird, oder die widerlegt wird und sich somit als unwahr herausstellt und verworfen werden kann. Auf den Punkt gebracht geht es dem Materialismus und seinem Denken um Wissen und Wissensakkumulation und damit um die Überwindung und Abschaffung des Glaubens.

Bei den Religionen und Glaubenssystemen ist es umgekehrt. Der Glaube an sich ist das zentrale Element. Seine Richtigkeit zu beweisen würde ihn zerstören, weshalb es erst gar keine Beweisanstrengungen gibt. Das, woran der Glaube geknüpft ist, wird als wahr vorausgesetzt, denn darauf basiert der Glaube. Und niemand will wirklich wissen, was davon wahr ist, woran geglaubt wird bzw. ob überhaupt etwas Wahres daran ist. Das ganze ist ein in sich geschlossenes System, in dem man sich wie unter einer Käseglocke bewegt, innerhalb der die Welt "in Ordnung" ist.

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Wer von beiden hat nun Recht? Die, die sagen, daß nur der Glaube weiterhilft? "Dein Glaube hat dir geholfen?" Die an Erleuchtung, Erlösung, Gott als Ziel allen Lebens glauben? Oder die, die an nichts glauben, an keine höhere Macht, keine höhere Instanz, kein übergeordnetes Prinzip - außer sie selbst? Die die Lösung der Existenzprobleme darin sehen, daß nur jeder für sich selbst sorgen solle, damit letztlich für alle gesorgt ist? Am Ende jeder gegen jeden, der Bessere gewinnt, auf daß sich das Bessere durchsetze.

Wenn ich mir den Verlauf der Geschichte ansehe, dann sind beide Welten falsch. Die Religionen, die lange Zeit am "Drücker" waren, haben sich nicht bewährt und sind über die Aufklärung ins Abseits geraten. Jetzt ist der Materialismus, der Allesleugner, an der Macht und tobt sich aus. Er sucht sein Heil im Individuum, das sich nicht mehr fragt, wo es herkommt, wo es hingeht. Es kümmert sich einfach nur um sein Überleben und will die ihm zugemessene Lebenszeit "voll auskosten".

Wie sich abzeichnet, wird auch dieses Prinzip scheitern. Der "real existierende Sozialismus" ist ja schon gescheitert und ich kann mir nicht vorstellen, daß der "real existierende Kapitalismus" nicht auch diesen Weg gehen wird. Es stellen sich ähnliche Symptome ein, wie sie für die Religionen bekannt sind: mangelnde Hinterfragung, Leugnung, blinder Glaube usw. In Wahrheit ist der Materialismus auch ein Glaubenssystem, nur heißen die Götter anders. Unter der Fuchtel des Materialismus fühle ich mich genau so unter einer Käseglocke, wie wenn ich an einem Gottesdienst teilnehmen würde.

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Was haben diese Systeme, die doch so grundverschieden zu sein scheinen, gemeinsam? Keines fragt mehr nach Gott, will sagen: nach einem übergeordnetem Prinzip. Keines will wirklich etwas näheres darüber wissen oder in Erfahrung bringen. Die Religionen nicht, weil Gott für sie die eigentliche Existenzberechtigung ist und seine Hinterfragung so wäre, wie wenn sich die Mathematiker zu fragen beginnen, warum die Multiplikation zweier negativer Zahlen eine positive Zahl ergeben soll. Man muß das hinnehmen, ohne geht es einfach nicht.

Der Materialismus hinterfragt "Gott" ebenfalls nicht, weil er sich genau durch Nicht-Gott definiert. Der Materialismus hat sich zum Ziel gemacht, "Gott" zu erklären und so seinen Raum systematisch einzuschränken. Kleiner und kleiner soll er werden, indem immer mehr erklärt wird. Eines Tages wird man bestimmt alles erklären können und dann ist "Gott" endgültig passé.

Für die Religionen MUSS es Gott geben, für den Materialismus DARF es (so etwas wie) Gott NICHT geben.

Doch obwohl beide für sich die Lösung, den Weg, propagieren, bietet in Wahrheit niemand eine Lösung an. Denn es ist genausowenig eine Lösung, ein übergeordnetes Prinzip krampfhaft zu leugnen (wie es der Materialismus tut), als an einem in Gottesform oder anderen Vorstellungen (Erleuchtung usw.) krampfhaft festzuhalten (wie die Glaubenssysteme). Letztlich wird sowohl die eine, als auch die andere Welt immer wieder von der jeweils anderen eingeholt (der Beobachter, der das Experiment beeinflußt, die Unschärferelation, der Reiche wird aus unerklärlichen Gründen arm, Schicksalsschläge, Kirchenaustritte = Gott ohne Geld, sexuelle Übergriffe, Sektenbildung, fehlbare "Unfehlbarkeit", "Rückschläge" auf dem spirituellen Weg, Gurugehabe unter Verleugnung der eigenen Begrenztheit usw.).

Und jede sich dann stellende Frage nach einem übergeordnetem Prinzip nach etwas, das noch über "Gott" bzw. über dem Individuum und seinen "persönlichen" Leistungen und Besitztümern stehen könnte, knabbert an den Wänden der Käseglocke.

Michael

Kommentare


unbekannt
08:52 19.10.2005
Danke für deinen Kommentar. Lieber kurz und ehrlich, als lang und um den Brei geredet.

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unbekannt
23:17 18.10.2005
Wie von einem Kind geschrieben, das ein gemütliches Netz sucht. Zum Glück funktioniert das in dieser Welt meistens nicht.

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unbekannt
18:43 18.10.2005
Zufallsprinzip und Chaostheorie liefern die "echten" Determinanten des Lebens, auch unseres Lebens! Alles andere ist für mich aus "philosophischer Steinzeit"!
LG


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