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Tagebuch MI
2006-06-09 09:40
Sprache als Diktaturbarometer (5)
Neuerdings benutzt mein Sohn immer häufiger die Redewendung: "Ich würde mal denken, daß..." Obwohl ich mich sonst sehr davor hüte, oberlehrerhaft aufzutreten, und ich normalerweise den in bestimmten Situationen bei mir auftretenden Belehrimpuls ins Leere laufen lasse, kann ich mich hier nicht länger zurückhalten.

Nicht nur bei meinem Sohn höre ich diesen Satz, sondern er scheint sich immer weiter auszubreiten. Wenn man ihm mal auf den Grund geht, steht man vor einer grandiosen Absurdität. Das soll mir einer mal klarmachen, wie er "denken würde". Wie geht das? Entweder man denkt, oder man denkt nicht. Und wenn man denkt, dann denkt man. Und das, was man denkt, das denkt man dann halt eben. Und "würde" es nicht denken.

Ich habe mich ja schon daran gewöhnt, daß die Leute nur noch "sagen würden", "tun würden", "ändern würden" (R. hatte dazu auch mal einen passenden Eintrag geschrieben). Und ich muß zugeben, daß auch ich immer wieder auf den Sirenengesang dieser Floskel hereinfalle und auch selbst plötzlich nur noch etwas "sagen würde", "tun würde" oder "anders machen würde". Gerade gestern in einem Forumsbeitrag ist mir das wieder passiert.

Da wurde das Grundgesetz, Paragraph 103, zitiert, nach dem Frau Charlotte Knobloch, neue Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, sich durch einen Vergleich eines ausländischen Staatsoberhauptes mit einer historischen Person, die als Diktator und Verbrecher weltweit bekannt ist, des Straftatbestandes der Beleidigung schuldig gemacht hat.

Zitat: "Bundesregierung und Justiz sollten schärfer gegen Mahmud Ahmadinedschad vorgehen, fordert Charlotte Knobloch. Der "Bild"-Zeitung sagte sie: "Für mich ist dieser Mann ein zweiter Hitler. Er leugnet den Holocaust. Das ist in Deutschland strafbar."

[
Die Rechtsprechung dazu:
§ 103
Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten
(1) Wer ein ausländisches Staatsoberhaupt - oder wer mit Beziehung auf ihre Stellung ein Mitglied einer ausländischen Regierung, das sich in amtlicher Eigenschaft im Inland aufhält, oder einen im Bundesgebiet beglaubigten Leiter einer ausländischen diplomatischen Vertretung - beleidigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe, im Falle der verleumderischen Beleidigung mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
(2) Ist die Tat öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) begangen, so ist § 200 anzuwenden. Den Antrag auf Bekanntgabe der Verurteilung kann auch der Staatsanwalt stellen.

]

Ich habe kommentiert: "Ich würde sagen, Straftatbestand erfüllt." Und erst als ich das abgeschickt hatte, fiel mir ein, daß ich gerade wieder in die Konjunktiv-Falle getappt bin. Ich würde das nicht sagen, sondern ich sage das: Straftatbestand der Beleidigung erfüllt.

Das mag jetzt vielleicht kleinlich klingen, aber es ist gerade so, daß sich in diesem kleinen Detail bereits die Richtung der Fahrt entscheidet. Hier ist bereits die Weggabelung. Würde ich das sagen, oder SAGE ich das auch wirklich?

Nebenbei bemerkt müßte diese Beleidigung nun eigentlich mit einer Gefängnisstrafe von mindestens 3 Monaten geahndet und die Staatsanwaltschaft müßte eingeschaltet werden.

In diesem Fall ist der Konjunktiv nun tatsächlich angebracht. Denn es WIRD ja nichts geahndet. Wieso nicht, das gehört zu den vielen Geheimnissen der deutschen Justiz. Wie auch die Tatsache, daß es in Deutschland zwar strafbar ist, einen Angriffskrieg vorzubereiten, es jedoch nicht unter Strafe steht, einen Angriffskrieg zu führen bzw. sich an einem Angriffskrieg zu beteiligen (http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Voelkerrecht/art26gg.html). Wasser für Pilatus' Hände.

-

Es wird also gar nicht mehr gedacht, sondern man "würde nur noch denken". Aber wann und unter welchen Bedingungen "würde man denken", was man gerade vorgibt zu denken? Wenn man es in Ruhe denken könnte? Wenn man es ungestraft denken könnte? Wenn man keine Nachteile befürchten muß, daß man es denkt? Haben wir denn keine Denkfreiheit?

Wenn einer sagt, "Ich würde sagen", dann kann ich das ja noch nachvollziehen. Man kann den Satz erweitern in: "Wenn mich einer fragen würde, dann würde ich sagen..." Oder "Wenn ich Richter wäre, dann würde ich urteilen..."

Allerdings geht es in diesen Situationen nie darum, daß er das tatsächlich auch sagen würde. Er würde das ja nur sagen, solange er es nicht sagen muß, solange er nicht in der "würde"-Situation ist. Denn wenn er sich tatsächlich dort befände, dann würde er es eben nicht sagen, weil ihm nämlich plötzlich der Mut ausginge. Die Realität beweist das. Da gibt es eine Menge Leute, die zwar das eine sagen, aber das andere "sagen würden" - wenn sie es denn könnten, ohne schwerwiegende Nachteile befürchten zu müssen.

Ich für meinen Teil werde nun noch sorgsamer darauf achten, daß ich weder "denken würde", noch "sagen würde", noch "schreiben würde" oder "tun würde". Sondern ich denke, ich sage, ich schreibe, ich tue. Alles andere ist Angst vor der eigenen Courage.

Michael

Kommentare


unbekannt
12:45 11.06.2006
Hier zwei kurze Tagebucheinträge zum gleichen Thema:
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Seltsame Schlenker I: Das Königreich des Konjunktivs

Frage auf dem Begleitzettel eines Dokumententwurfs:
"Wären Sie mit dieser Umsetzung einverstanden?"

Kurzes innerliches Kopfschütteln. Dann meine Antwort:
"Ich wäre es nicht nur, ich bin es sogar."
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Seltsame Schlenker II: Ich würde gerne sagen, dass...

Aus der Email eines Vorstandsmitglieds des besagten Vereins:
"Ich hätte gute Lust, den Herrn B. darauf hinzuweisen, dass..."
Einen Satz vorher hat er mich nur als B. (ohne Herr vorneweg) angesprochen.

Meine Antwort:
"An M. bzw. den Herrn M.:
Wenn Sie gute Lust haben, mir etwas mitzuteilen - warum tun Sie es nicht einfach?"

Die Leute sind unfähig, einem anderen ins Gesicht zu sagen, dass sie sich über ihn ärgern. Woher diese Hemmung?

Ach ja: Das Tischtuch zum Verein ist nun endgültig zerschnitten.
--------------------------------------------------------------

Und hier Bastian Sicks Kolumne "Das Imperfekt der Höflichkeit": http://www.kolumnen.de/sick-011104.html

Woher kommt eigentlich die Empörung über solch abschwächende, das zwischenmenschliche Zusammensein schonende Sprachkonventionen?

Gruß
Ralf


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11:08 09.06.2006
sehr schöne ideen.... außerdem stellt sich die Frage: was passierte zum guten alten konjunktiv 1??
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unbekannt
10:56 09.06.2006
Hallo Michael!

Der Konjunktiv ist also überwiegend im Wortschatz feiger Redner auffindbar. Eine interessante Feststellung, die wohl -ebenso wie Gangart oder Körpersprache- Auskunft über die Selbstsicherheit des Gegenübers geben. Leider erbaue ich mir auch oft eine Welt der Möglichkeiten. Deinem Eintrag entnehme ich die Forderung nach einer ' 1:1 Maßstab- Übersetzung' eigener Ansichten und Handlungen. Auch ich bemühe mich jetzt darum ;).

Ein schönes Wochenende!

Ein Mensch, der für den Fall, er müsste,
Sich - meint er - nicht zu helfen wüsste,
trifft doch den richtigen Entschluss
Aus tapferem Herzen: Denn er muss!
Das Bild der Welt bleibt immer schief,
betrachtet aus dem Konjunktiv.
Eugen Roth


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10:26 09.06.2006
Hallo enfusia, danke für deinen ehrlichen Kommentar. MI
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10:20 09.06.2006
Mhhh ... da hast Du recht. So habe ich die Sache noch nie betrachtet. Naja habe mir bisher auch nie Gedanken drum gemacht. LG
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