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Tagebuch MI
2006-08-15 14:30
Neid-Ego (4)
Im Essensaal der Jugendherberge Thale (Harz), in der wir zum Abschluß unseres Sommerurlaubes übernachtet haben, setzte sich auf den Stuhl neben dem meinigen eine Frau, und mit dazu zwei Jungen, die zwar nicht wie Brüder aussahen, tatsächlich aber welche waren (ich bin aber bis zum Schluß und entgegen der Beteuerung der Mutter den Verdacht nicht losgeworden, daß es sich um Halbbrüder handelte, sie waren einfach zu verschieden).

Ich beobachtete das aus der Ferne von der Essensausgabe aus, wo ich mir gerade Brötchen und einen Kaffee holte. Ich begrüßte das auch innerlich, warum nicht einen netten Gesprächspartner am Frühstückstisch haben. Sie sah nicht unbedingt gut aus, eher Kategorie: gestreßte, aber "Ich-habe-alles-im-Griff"-Mutter. Schlecht sah sie aber auch nicht aus, und darum soll es hier ohnehin nicht gehen.

Ich war vor allem gespannt, was für ein Mensch sie letztlich war (ich bin da immer sehr neugierig). Aus den ersten Gesprächen, die sie dann auch vermehrt mit meiner Partnerin führte, zeigte sich sehr schnell, daß es kein typischer Schlafmensch (Motto: man gebe mir meine Morgenzeitung und die täglichen Nachrichten und erspare mir das Selberdenken) war, sondern es war gleich klar: hier saß ein kritischer Mensch neben mir.

Sie war sehr gut - anscheinend sogar noch besser als E. - über Lebensmittel informiert. Die Kinder bekommen z. B. nur einmal die Woche Nutella. Bei vielen Fakten konnte ich kaum noch folgen, ich war jedenfalls beeindruckt. Bis dahin dachte ich ja, daß ich bei Hardcore-Lebensmittelgesprächen noch einigermaßen würde mithalten können, aber hier war mein Meister bzw. meine Meisterin gefunden.

Ich war nun endgültig neugierig geworden und fragte sie, ob sie denn beruflich etwas mit Lebensmittelchemie zu tun hätte oder irgendwie naturwissenschaftlich-chemisch "vorbelastet" wäre. Weder das eine noch das andere war der Fall, sondern sie erzählte mir, sie wäre aus der Medienbranche. Innerlich lief daraufhin bei mir das übliche Vorurteilsprogramm ab. Medienmenschen bin ich ganz instinktiv extrem skeptisch gegenüber. Für mich - so habe ich es später E. gesagt - ist das die "verhurteste Berufssparte überhaupt".

Irgendwo ist ja jede Arbeit in der heutigen Form Verhurung: man verkauft sich und seine Zeit. In dem Sinne macht jetzt gerade einen Fehler, wer bei dem Begriff "verhurt" innerlich zusammengezuckt ist. Huren sind wir alle, nur, das sage ich eben, sind die Medienleute die größten und schlimmsten Huren. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie man an dem, was die (westlichen?) Medien - von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen - tagtäglich drucken und senden (und besonders: was sie nicht senden und sagen), aktiv beteiligt sein kann, ohne längst seine Seele und seine Selbstachtung verloren zu haben. Und dann habe ich bei Medienleuten immer dieses seltsame Gefühl, als würden die nicht mit mir reden, sondern mit einer Kamera.

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Meine Vorverurteilung schob ich nun aber beiseite, schließlich hatte ich hier einen Menschen vor mir, und nicht eine Frau, die mutmaßlich für ihren Job ihre Seele an den Nagel gehängt hatte. Jedenfalls wollte ich das so sehen. Es stellte sich dann noch heraus, daß sie einige Jahre in Amerika war, was gesprächlich bestens zu meiner Partnerin paßte, da sie ja auch einige Jahre "drüben" war. Diese Frau war mir voraus, das war nun klar. Es war auch klar, daß meine erste Einschätzung zu "niedrig" angesetzt war.

Sie erzählte dann noch zwei weitere interessante Details: zum einen wäre sie nun lehrend an einer Fachhochschule für Grafik, Medien und Kommunikation tätig (früher wäre es da nur um Inhalte gegangen, aber nie um den Umgang mit Fernsehen etc., das wäre heute "endlich" anders - ich fand das eher eine bedauerliche Entwicklung und halte mich an PeterLicht, der sagt: "Meide Menschen, die vor Kameras Sachen machen", leider gehört er nun neuerdings selbst zu dieser Gruppe, wie ich mitbekam, etwas inkonsequent, finde ich. Aber was sag ich).

Zum anderen erwähnte sie in einem Nebensatz, daß ihr Mann ebenfalls im Medienbereich arbeiten würde, er wäre Produzent. Ich habe an dieser Stelle aber nicht weiter nachgefragt. Sie erzählte dann noch von ihrem Wohnort, Hamburg, und von einem Haus, und mich beschlich immer mehr das Gefühl, hier etwas "Hochkarätiges" vor mir zu haben, also einen Menschen mit gewissem Wohlstand. Man kennt solche Sachen ja aus bestimmten Hamburger Stadtvierteln.

Alles in allem war es eine nette (was auch heißt: oberflächliche) und interessante Urlaubsbekanntschaft, es kam auch am Abend zu einem Treffen, und wir haben uns alle nett (das heißt: oberflächlich) unterhalten. Ich hatte auch den Eindruck, daß es dieser Frau gut auskam, uns abends zu treffen. Denn sie war allein mit ihren Jungen in diesem Urlaub, der Vater war aus Zeitgründen nicht dabei. Und wenn frau einen ganzen Tag mit zwei Jungs verbracht hat, ist frau wohl ganz froh über eine erwachsene Abwechslung am Abend und Pause von der Jungenbetreuung.

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"Figures" sagen die Amerikaner anstelle unseres etwas langem "War ja klar". Jedenfalls dachte ich genau das, als ich nach dem Frühstück aus der Herberge ging und diese Frau bei der Ausflugsvorbereitung sah. Sie packte den Wagen, die beiden Jungen saßen schon darinnen, und es war nicht irgendein Wagen, sondern es war ein schöner, sehr neuer Mercedes-Geländewagen, den man nicht so ohne weiteres aus der Portokasse zahlen kann (ich fragte mich an dieser Stelle, was reiche Leute eigentlich in einer Jugendherberge machen, nicht mal da hat man Ruhe davor). Und vermutlich war das "nur" der Zweitwagen. Denn der Herr Produzent braucht ja auch ein Auto, und das wird sicher auch recht schick sein.

Jetzt fügte sich also jedes Puzzleteil ins Bild. Wohnort war der "Hamburger Westen", wo eine schulische Förderung laut Schulverwaltung "nicht nötig ist", wie diese Frau erzählte. Die dortige Bevölkerung müsse da privat Vorsorge treffen (weil die dafür genug Geld hat, auf deutsch). Zusammgefasst: diese Frau bzw. ihre Familie hatte offensichtlich richtig Schotter.

Ich habe dann nicht weiter hingesehen. Ich habe auch nicht hingesehen, als sie davonfuhr. Manchmal macht man das ja, noch mal ein kurzes Verabschieden oder Winken, viel "Spaß beim Ausflug" etc. Ich konnte nicht, ich hatte das Gefühl, daß mich das nur schwächen würde. Und was mich da schwächen würde, das waren wohl meine Neidgefühle. Mit Reichtum konnte ich noch nie gut umgehen, speziell wenn es nicht meiner ist. Das ist eine ganz einfache Sache. Zumal es auch noch so ein "zusammengehurter" Reichtum ist. Dafür habe ich eben meinen Seelenfrieden und meinen Seat-Cordoba (den ich mir so gerade noch leisten kann) mit Dachkoffer, der tut's auch.

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Ich habe dann aber auch gemerkt, daß es sich mit meinem "Neidkomplex" etwas gebessert hat. Natürlich ärgerte ich mich über mich selbst, daß der Anblick von Reichtum mich gleich so aus der Bahn wirft. Aber früher habe ich noch versucht, Reichtum zu verstehen. Ich habe auch Dinge mit der Absicht getan, selbst reicher zu werden. Und ich hatte tatsächlich in diesem Moment, als wieder dieser Neid aufkam, die Erkenntnis, daß genau dies die Ursache meines Neides war: nämlich alle meine Anstrengungen, selber wohlhabend und am besten gleich: reich zu werden.

Daraus ergibt sich eine einfache Schlußfolgerung: nämlich daß Neid auf etwas oder auf jemandem nur von dem Bemühen gespeist wird, selbst so zu sein, wie ein anderer Mensch, oder selbst das zu haben, worum ich jemand anderes beneide. In dem Moment, wo ich das alles sein lasse, wo ich jedes Bemühen einstelle, etwas zu erlangen, was andere haben, ich aber nicht - und das ist ohne weiteres möglich -, in genau diesem Moment ist aller Neid zu Ende.

Neid ist nichts Statisches oder „Gottgegebenes“, auch keine Charaktereigenschaft oder gar eine "Schwäche". Sondern Neid entsteht immer nur aus Dynamik und Anstrengung heraus, aus der Nicht-Akzeptanz der und der aktiven Auflehnung gegen ganz offensichtliche Tatsachen.

Mithin ist Neid eine reine Ego-Erscheinung, und es fördert kaum etwas besser dieses Ego zu Tage, als der Anblick von etwas, daß es insgeheim haben will, aber nicht hat (das gilt übrigens und insbesondere auch für die Erleuchtung, die es leider niemals haben kann). Entziehe ich diesem Neid-Ego die Nahrung, indem ich seinen Trieb versickern lasse und nicht auf seine Verhaltensrichtlinien und Befehle reagiere (also nicht mehr vergleichen, nicht mehr bewerten, nicht mehr besser sein wollen, nicht mehr anders sein wollen), dann bricht es zusammen und es bleibt nichts als Akzeptanz und Frieden übrig.

Michael

Kommentare

12:29 17.08.2006
Ok Ralf, dass es um den richtigen Umgang geht, da sind wir, so glaube ich feststellen zu dürfen, alle einig. Eine Schwäche wäre der "unreflektiierte" Umgang mit dem Neid. Eine Selbstschwäche um genauer zu sein, denn wer seine Affekte (im normalen Alltat wolhgmerkt, denn in speziellen Situationen ist ein Affekt wie Angst auch lebensrettend) hingibt, schwächt sich selbst, denn er würde nicht sich selbst gehorchen, seinem Interlekt, seiner Vernunft, sondern seinen Affekten. Und Ziel eines reflektierten Lebenstils ist es doch sich selbst und seine Affekte in für eine selbst und für andere zu bejahende Form zu bringen. Eine Form die im Prinzip nichts anderes ist als die zu bejahenden oder zu verneinende Form einer Evolutionstheorie.
Gruß Tyche
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unbekannt
00:45 17.08.2006
Wieso Schwäche? Neid gehört zu dem psychischen Arsenal, mit dem uns die Evolution für den Überlebenskampf ausgestattet hat. Entscheidend ist der Umgang mit unseren Affekten, nicht die Frage, ob man sie hat oder nicht.
Gruß Ralf


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15:38 16.08.2006
Hallo Tycho,
ich muß zugeben, ich war eitel genug, den Relativsatz gleich richtig zuzordnen.
Eitelkeit ist auch sowas
Grüße, MI
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15:32 16.08.2006
Der Relativsatz "die so gut ist", bezieht sich natürlich auf die gute Analyse und nicht die Schwäche.
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15:30 16.08.2006
Genau so ist es. Mal wieder eine sehr schöne Analyse einer allzumenschlichen Schwäche, die so gut ist, dass man neidisch werden könnte.
Schönen Gruß von Tyche
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