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Tagebuch MI
2006-03-30 21:14
Im Salon

Meinen Vortrag hatte ich hinter mir, ist gut gelaufen, ich habe ihn leider etwas zu lang angesetzt, konnte ihn daher nicht bis zu Ende bringen. Was nicht schlimm war, alles wichtige war gesagt. Als die Sitzung vorbei war, hielt mich aber nichts mehr unter dem Publikum.

Ich musste dann einfach allein sein, ich kann einfach nicht allzulange unter Menschen sein, wenn immer wieder das gleiche Thema mit mehr oder weniger grosser Ernsthaftigkeit durchgekaut wird, wie das auf Kongressen und Workshops halt üblich ist. Das ist soweit in Ordnung, und das Publikum hier ist auch ein ganz nettes. Ich muss dann aber trotzdem weg.

Es ist ein schönes, altes Gebäude, und offensichtlich gaben sich hier schon deutsche Physikergrössen die Hand gegeben. Ein Foto hängt im Flur und zeigt Max von Laue am Klavier (man sieht eigentlich nur die Finger mit der typischen Haltung).

Und tatsächlich steht hier im Salon - es ist wirklich ein Salon, in so etwas bin ich nicht alle Tage - ein Klavier an der Wand. Und da der Salon fast immer leer ist, spricht doch eigentlich nichts dagegen, dass ich mich jetzt ans Klavier setze und ein bisschen spiele. Das hätte ich am liebsten jetzt getan: ein bisschen Klavierspielen zur Entspannung.

Aber es könnte ja jemand in den Salon kommen. Es könnte jemand kommen und sagen, dass ich nicht so einfach dieses Klavier spielen dürfe. Oder es könnte ein Workshop-Teilnehmer kommen und, ja was und?

Drauf lagen sehr alte Notenblätter, aber mittlweile kann ich ja auch ohne Noten spielen (eben, weil mich Situationen immer genervt hatten, in denen ich zwar spielen wollte, aber nicht spielen konnte, weil ich auf Noten angewiesen war). Händel, Schumann, Bach, das wäre es doch jetzt. Also, Klappe hoch und... Ach, die Tasten sind auch noch mit einem Tuch bedeckt, eine weitere Hemmschwelle. Ich darf dieses Tuch nicht einfach wegnehmen.

Wenigstens mal eine Taste runtergedrückt. Aha, klingt. Klingt gut. Also, warum nicht einfach ein bisschen spielen? Einfach spielen, so wie Max von Laue. - Weil das ganze Haus das doch hören würde. Und jeder würde sich wundern, was da wohl los wäre. Und ich sitze da und spiele Klavier, dabei geht es hier doch um was ganz anderes. Um Fakten zum Beispiel.

Ja, aber warum nicht TROTZDEM spielen? Wenn ich es doch jetzt gerade möchte und da auch noch eins steht? Ich weiss nicht. Ich habe schon so viele dieser Situationen erlebt, und irgendwie sind sie nie "gut" gegangen. Also habe ich es mal wieder gelassen und habe mich nur stumm in einen Sessel gesetzt und aus dem Fenster geschaut.

Ein älterer Herr kommt herein und blickt wie ich aus dem Fenster. "Regnet`s draussen?" "Ich glaub nicht, ist nur bewölkt." "Aha", und geht wieder.

Michael

Kommentare


unbekannt
19:16 31.03.2006
Amen

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unbekannt
18:54 31.03.2006
Wie Du sagst: Der wichtigste Punkt ist, es überhaupt zu merken. Würde man sich dann zu einer bestimmten Konsequenz zwingen, wäre man auch nicht freier geworden. Meistens passiert etwas ganz anderes, wenn man sich selbst ehrlicher gegenübersteht und auch die eigene Feigheit tolerieren kann.

Mir scheint, es geht darum, das eigene Herz sich selbst gegenüber zu öffnen, also sich zu lieben. Das strahlt dann immer auf eine eigene Weise aus, weil es einfach etwas Positives ist, eine Stärke. Daraus erwächst dann auch etwas, das man mit Freude tut.

Gruß
GL


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10:23 31.03.2006
Ja, danke fuer deinen Anstoss. Das ist genau das, was ich beschrieben habe. Und genau das, was Du da sagst, ging mir duch den Kopf, als ich mal wieder mein Lied nicht gespielt habe.
Es ist wie ein Offenbarungseid, wenn ich das hier so reinschreibe. Andererseits muss ich es mir trotzdem ansehen, DASS es so war. Und nein, ich sage jetzt nicht, beim naechsten Mal spiele ich vielleicht. Ich habe ja beschrieben, wie schwierig auf einmal ist, was doch eigentlich voellig normal sein koennte, muesste, was sogar sehr schoen sein koennte.

Aber mir wird trotzdem immer klarer, auf was ich mich einlasse, wenn ich spiele bzw. was mir abgeht, wenn ich nicht spiele. Das mag trivial klingen, aber ich wusste nie viel darueber und habe mich auch lange Zeit nie damit auseinandergesetzt - und habe halt nicht gespielt. Den Bereich des 'Nicht-Spielens' habe nun wohl bis zum Erbrechen ausgelotet. Das sollte genuegen.
Michael
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unbekannt
08:08 31.03.2006
Ja, schön, das beschreibt die Essenz eines ganzes Leben. Man könnte ja sein eigenes Lied spielen, sein eigenes Leben leben (unerwartet, für die anderen ungewöhnlich, nicht in ihrem Interesse), aber weil das Anstoß erregen könnte, wird eben auf dieses eigene Leben verzichtet und man setzt sich in die Ecke und lebt es nicht. Das stört auch keinen weiter, man fällt dann eben nicht auf.

GL


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2006-03-30 21:14