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Tagebuch MI
2005-04-27 14:49
Ich-Paradoxie
Muß...

Wieso "muß"? Wieso habe ich gestern geschrieben "und daß ich mir stets darüber bewußt sein muß"? Ich muß überhaupt nichts.

Sieh nur mal an, wie schnell das bei mir geht mit dem "müssen". Erst befreie ich mich von allen Zwängen, indem ich sage, daß es nichts zu erreichen gibt. Zwinge mich aber dann dazu, mir stets irgendeiner Sache bewußt zu sein. Was ist denn damit nun wieder gewonnen? Will ich denn den Teufel mit dem Belzebub austreiben?

Erinnern, vielleicht trifft es das besser. Wie funktioniert denn erinnern? Es ist erst einmal gar nichts Bewußtes. Erinnern tue ich mich immer erst, wenn ich durch ein bestimmtes Geschehnis an etwas erinnert werde. Erinnern ist also eine passive Angelegenheit, die erst auf Grund irgendeines Vorganges geschieht.

Der Normalzustand ist Identifizierung. Ich bin das, der oder das da handelt. Jemand ruft meinen Namen und schwups, drehe ich meinen Kopf um, denn ICH werde ja gerufen. Ich bin das, der auf diesen Namen hört. Ich bin das, der sich gleich unterhält, der jemandem bei etwas hilft, der jemanden zu sich ruft, der irgendetwas tut.

Mit kommt gerade der folgende Vergleich: ein Kind wird auf irgendeiner Theaterbühne geboren und weiß nicht, daß das eine Bühne ist, auf der es existiert. Es bekommt eine bestimmte Rolle zugesprochen. Wie sie halt im Drehbuch steht. Es bekommt einen Namen, es erhält einen Charakter, es wird konditioniert dem Zeitgeist und der Kultur entsprechend.

Und es wird niemals auf den Gedanken kommen, daß es das gar nicht sein könnte, was es da spielt. Es wird nicht auf die Idee kommen, daß es nicht die Rolle ist, die es spielt, sondern nur ein Schauspieler, der eigentlich auch irgendeine andere Rolle spielen könnte. Es hat das ja noch nie erlebt, wie das ist, wenn es mal keine Rolle spielt. Immer wird es dazu genötigt, eine - seine - Rolle zu spielen.

Wie kann so ein Kind jemals aufwachen und den Betrug an ihm bemerken? Es muß etwas von Innen da sein, etwas das ihm sagt, daß hier etwas nicht stimmt, daß hier noch eine andere Identität ist, eine andere Wesenheit, irgendetwas anderes. Verdammt, das ist nicht alles. Diese Rolle, die ich hier spiele, das ist nicht alles. Irgendetwas stimmt da nicht. Aber was?

In Goethes "Wahlverwandten" steht in Ottilies Tagebuch (ein wahrer Schatz an Weisheiten) der Satz: "Ein jeder Mensch wird in der Welt als das genommen, als was er sich gibt. - Aber er muß sich auch als etwas geben". In diesem Zusammenhang gesehen heißt das: ein jeder spielt hier seine Rolle. Und er wird auch als diese Rolle wahrgenommen. Aber er muß sie auch wirklich spielen!

Es hat keinen Sinn, sich gegen seine Rolle zu wehren. Ich muß sogar sagen, daß ich es immer wieder erlebe, daß mein Gegenüber meine Rolle viel ernster nimmt und viel früher erkennt, als ich es tue. Im Grunde ist doch alles so einfach. Einfach aufhören, sich gegen seine Rolle zu wehren!

Klar, nichts, im tiefsten Innern bin ich nichts oder besser: ist da nichts, es löst sich alles auf. So wie wenn man auf die Jagd nach Atomen geht. Das war ja schließlich zu Beginn dieses Jahrhunderts die große Überraschung, als man feststellte, wie klein Atomkerne sind und wie leer der Raum im Grunde ist. Der Raum ist so etwas von leer, daß man sich das gar nicht vorstellen kann, wie leer er ist.

Aber auch die Kerne zerfallen beim näheren Hinsehen, wir wissen das alles. Genau so verhält es sich mit der Jagd auf eine Entität, auf irgendetwas festes, auf eine Art Entscheidungszentrum, einer Steuerzentrale. Wo soll die sein? Wer steuert das alles hier? Soll ich mich denn mit einem durchkonditionierten Neurosenbündel identifizieren?

Es ist immer das alte Dilemma, Ich rede von "ich" und weiß gar nicht, was "ich" ist, ja, nicht einmal, was es sein soll. Es ist so ähnlich wie mit den imaginären (komplexen) Zahlen. Die Wurzel aus -1 existiert nicht, weil es keine Zahl gibt, die mit sich selbst multipliziert eine negative Zahl ergibt. Trotzdem wird behauptet, die Wurzel aus -1 ist i , so daß i x i = -1 ergibt, und braucht man diese imaginären Zahlen, sie sind sogar von großer Bedeutung in jeder Form von Wissenschaft und Technik.

Ich muß in Sachen "Ich" auch immer wieder an das von Gödel aufgestellte Unvollständigkeits-Theorem denken. Während meines Studiums habe ich es nicht kennengelernt, erst später im Roman "Das Klingsor-Paradox". Dieses Theorem besagt, daß "innerhalb der Regeln eines Systems die Konsistenz dieses Systems nicht bewiesen werden kann".

Und verhält es sich mit dem "Ich"-System nicht genau so? Ich kann nicht beweisen, daß i gleich der Wurzel aus -1 ist. Ich brauche das nur für verschiedene Zweige von Mathematik und Physik. Genausowenig kann ich beweisen, daß Ich ein Ich bin. Denn um so etwas zu beweisen, setze ich ein "Ich" voraus, das diesen Beweis durchführt, anerkennt oder aberkennt.

Anders herum gibt es aber auch nicht die Möglichkeit eines Gegenbeweises, denn um die Nicht-Existenz eines Ichs zu beweisen, wird ebenfalls ein Ich erschaffen, womit seine Existenz begründet wäre.

Trotzdem brauche ich dieses "Ich", es dient der Verständigung, der Zuordnung, der Orientierung. Das ist aber kein Beweis, daß es dieses "Ich" tatsächlich gibt!

Hierein paßt auch das berühmte Kreta-Paradoxon: Der Kreter Thokydides sagt: "Alle Kreter lügen!" Genauso paradox ist es, wenn ein Ich sagt bzw. wenn ich sage: "Es gibt kein Ich."

Angenommen, ich bin nicht ich, was bin ich denn dann? (wieder so eine paradoxe Frage)

Das ist dieser Bruch, den das Schauspielkind erfahren muß. Erst denkt es, es sei diese Steuereinheit, es würde selbst die Entscheidungen treffen, die im Drehbuch stehen. Bis irgendetwas geschieht, das es daran zweifeln läßt. Das ist etwa ein Zeitpunkt, wo sein Wille mit dem was geschieht, komplett nicht übereinstimmt, es aber auch nichts dagegen tun kann.

Dann erst taucht der erste Gedanke auf, daß es selbst möglicherweise gar nicht so sehr viel Einfluß auf sein Leben hat, daß es möglicherweise überhaupt keinen Einfluss auf sein Leben hat. Daß die einzige logische Lösung für sein Dilemma darin besteht, daß es gar nicht ist, was es immer dachte, das es sei, sondern daß das nur seine Rolle ist, hinter der es sich verbirgt.

Und daß es sich auch hinter den "anderen" Menschen in diesem Schauspiel verbirgt, sogar hinter dem Regisseur und dem Publikum. Daß es das alles selber ist. Und daß außer es selbst nichts ist und somit alles in ihm ist bzw. Innen und Außen zusammenfallen (und vielleicht so ähnlich wie Materie und Anti-Materie zusammen Nichts ergeben). Und daran er-innert es sich schließlich.

Ich weiß nicht, ist vielleicht etwas weit hergeholt das alles und abstrakt, ich habe nur mal versucht, verschiedene Aspekte unter einen Hut zu bringen.

MI


[Bild nicht gefunden]


Kommentare

17:16 28.04.2005

Hallo Dieter,

das ist das Schöne am Schweigen und an der Stille (allerdings auch das Verführerische). Musizieren zähle ich hier auch noch hinzu.

Ich frage mich trotzdem, ob man nicht auch mit der Wortsprache den "richtigen Ton" treffen kann. Manche wenige können das. Wenn ich von denen lese, fühle ich mich eins mit ihnen. Es sind die, die mir - wie man so schön sagt - aus dem Herzen sprechen.

Grüße,
Michael
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unbekannt
19:10 27.04.2005
Michael:

"Ich" ist ein Hilfskonstrukt, um sprachlich auf sich selbst zu verweisen. Du bist nicht ein "ich" aber du bist auch nicht nichts. Dieses "ich" oder "du" ist schon falsch. Dadurch kommt schon die Trennung ins Spiel. Denken und Sprache trennen immer. Nur Schweigen und Stille vereint.

lg
Dieter


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