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Tagebuch MI
2005-04-08 14:16
Ein Bleichgesicht
Ich weiß, ich rede und schreibe viel über "die Leute", über "die Menschen". "Die Menschen werden verrückt in diesem geistigen Vakuum" usw., wie zuletzt.

Wissen kann ich das natürlich alles gar nicht. Und letztlich gilt in all diesen Sätzen eigentlich immer nur die Umkehrung: ich werde verrückt. Ich werde verrückt in dieser geistigen Armut. Das Leben reduziert auf die rein körperlichen Aspekte, ein Leben, in dem man es sich nach Möglichkeit gut einrichtet (und natürlich: absichert, ganz wichtig), ein bißchen "Fun" hat, viele Leute kennt, viele Freunde hat, mal schnell mit einem Billigflieger nach Portugal oder Irland jettet, oder zum "shoppen" nach London.

Das muß einen doch verrückt machen. Ich mein, worum geht es denn hier eigentlich noch? Man muß sich doch einmal darüber im Klaren sein, wie erbärmlich das alles ist.

Wegen der Umkehrungen: ich fand gestern ein Comic-Heft mit einigen Satire-Zeichnungen darin. Eine Geschichte zeigte einen jungen Mann in verschiedenen Situationen, in denen er sich jedesmal die gleichen Gedanken über diese Situation machte. Z. B., während der Arbeit dachte er darüber nach, wie die Menschen das nur aushalten, jeden Tag von früh bis spät dieser stupiden Arbeit nachzugehen.

In einer Imbißbude dachte er, wie die Menschen sich nur so ernähren können. Auf einer Fete fragte er sich, was die Menschen daran eigentlich so toll finden. Vor dem Fernseher fragte er sich, warum sich die Menschen nur so einen Schrott ansehen. Schließlich ging er ins Bett und sagte sich, das wäre so, weil die Menschen einfach alle blöde sind.

Klar mußte ich da lachen, voll erwischt. Ich stecke doch schließlich mittendrin in diesem ganzen Wahnsinn, über den ich mich so gerne aufrege.

Kürzlich ist mir zum Beispiel das Licht aufgegangen, daß ich - mittlerweile - gar nicht mehr (allein) Opfer der Staatsverschuldung bin, sondern mit der Zeit rücke ich immer mehr in Richtung Täter! Ja, ja. Wenn ich heute einem Jugendlichen sage, mit wievielen Schulden er im Prinzip schon belastet ist, ohne daß er das Geld auch nur jemals gesehen hätte, dann muß ich zwangsläufig aus seiner Sicht zu denjenigen gehören, die das mitverursacht haben.

Ich? ICH?

Aber ich bin doch selber Opfer! Ich bin doch selbst schon mit diesen verdammten Schulden aufgewachsen und kann nichts dafür. Die anderen waren es. Die Politiker.

"Wer, ich?", sagen jetzt die Politker. Was hätten wir denn wohl machen sollen? Die Mauer wieder aufbauen? Das soziale Netz durchschneiden? Die jungen Mütter nach drei Tage Entbindung wieder nach Hause schicken, weil das genügen muß? Die Urlaubstage auf 20 reduzieren? Die Steuern erhöhen? Die waren eh schon zu hoch. Wir konnten nichts anderes machen. Wir hätten es ja vielleicht noch hinbekommen, aber die Wiedervereinigung...

"Moment", sagt die DDR. Die BRD hat jawohl damals von den Amis das Geld in den A. gesteckt bekommen, während der Russe mich wie eine Weihnachtsgans ausgenommen hat. Ich hatte nie eine Chance.

"Ich auch nicht", sagt der Russe.

Und so geht das immer schön weiter. Verdammt, ich kann dem nicht entwischen, ich werde bald zu den Tätern gehören, ob ich will, oder nicht.

So ist das Leben. Man soll mal nicht glauben, daß es mit einer Rolle getan ist. Eh man es sich versieht, wird man zu seinem eigenen Gegner, und alle Argumente, die ich damals meinem Gegner vor die Füße geworfen habe, die liegen nun vor meinen eigenen Füßen und nun fange ich tatsächlich an, das zu verteidigen, was ich früher beschimpft habe.

Nicht umsonst heißt es auch: "Wer mit dem Schwert kämpft, kommt durch das Schwert um."

Angenommen ich treffe auf einen urwüchsigen und naturverbundenen Indianer. Was wird er von mir denken? Wird er denken: ah, endlich mal ein einsichtiger Weißer, dem ich seine Echtheit und Natürlichkeit ansehen kann, der sagt, was er denkt, der ist, was er ist und nicht vorgibt, etwas anderes zu sein. Oder wird er sagen: ein weiteres scheinheiliges Bleichgesicht.

Bleichgesicht bleibt eben Bleichgesicht. Bleichgesichter denken nur ans Geld und haben ständig Angst und sorgen sich um den nächsten Tag. Und aus dieser Angst heraus müssen sie expandieren und machen sich so die Welt untertan, jedoch wird die Angst dadurch nicht weniger, sondern sie nimmt noch weiter zu. Denn nun sehen die Bleichgesichter, was sie mit ihrem Expansionswahn anrichten: sie zerstören ihre natürliche Lebensgrundlage und damit früher oder später sich selbst.

Und ob ich es will oder nicht: ich gehöre dazu. Ich bin dabei. Ich bin ein Bleichgesicht.

MI

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