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Tagebuch MI
2005-05-26 16:50
Der Preis
Heute morgen hatte ich mit A. das zweite Gespräch (der Leiter meiner Arbeitsgruppe, s. letzter Eintrag). Wir waren am Instrument, er wollte viel von mir wissen. Nicht nur über das von mir betreute Instrument, sondern auch über die anderen Instrumente und über die Unterschiede. Und vielleicht wollte er auch ein bißchen was über mich wissen.

Mit "meinem" Instrument kenne ich mich natürlich ganz gut aus. Aber ich bin auch schnell in Schwierigkeiten geraten, wenn es darum ging, die Instrumente untereinander zu vergleichen, die Stärken und die Schwächen hervorzuheben (Vergleichen ist etwas, das mir generell schwer fällt und ich auch ungerne mache).

Insgesamt war ich angespannt, habe immer gedacht, was will er als nächstes wissen, wieviele Schwächen und "blinde Flecken" wird er bei mir sehen bzw. muß ich offenbaren. Wie gerne wäre ich souverän in solchen Situationen, wie gerne würde ich auf alle Fragen ein perfekte Antwort parat haben. Aber ich bin unsicher, ich weiß, daß ich Schwächen habe, Schwächen, die ich nicht haben sollte (so die Denke). Man sollte meinen, das würde einen sicherer machen, wenn man um seine Schwächen weiß. Aber bei mir ist es nicht so. Ich habe Schwächen und wenn ich darauf angesprochen werde, fühle ich mich unwohl.

Mein Verhalten in diesen für mich angespannenden Situationen, in denen ich mich unter Druck fühle oder mich selbst unter Druck setze (es ist ein bißchen wie eine Prüfungssituation) hat sich sicherlich verbessert. Früher hat mich etwas in den Keller stürzen lassen, wenn meine Schwächen offenbar wurden. Die Sache ist nur: es ist zu nichts gut, in den Keller zu stürzen. Es ändert nichts, es verschönert nichts, und: es ist auch vollkommen unnötig. Man stelle sich vor, ein Mensch ohne Schwächen. Keine weiche Stelle, keine Stelle, die sein Innerstes verrät, die seine Zweifel verrät, seine Unsicherheit offenbart.

Eine Maschine.

-

Ich habe sowieso das Gefühl, daß mein Innerstes längst draußen liegt, ich habe auch nicht mehr das Bedürfnis, es zu verbergen. Lieber trete ich die Flucht nach vorne an. Das Leben ist viel einfacher, wenn man gleich damit herausrückt, wo die eigenen Stärken und wo die Schwächen liegen. Wobei es nicht sinnvoll oder notwendig ist, gleich alles auf den Tisch zu legen. Was ich wichtig finde ist, bei den Stärken nicht gleich angeben zu wollen und bei den Schwächen sie nicht kaschieren zu wollen oder sich dafür zu schämen (und sich stattdessen lieber zu überlegen, welche Stärke dahinter stecken könnte...).

Außerdem: sich nicht von seinen Projektionen in die Irre leiten lassen und vor allem: nicht bewerten! (was ein Resultat davon ist).

Eine "Schwäche" von mir ist es z. B., daß ich einerseits zwar gerne ein wissenschaftliches Instrument und die Gäste daran betreue und das auch gut mache, daß ich aber andererseits Schwierigkeiten habe, eine eigene interessante ("high impact", wie das so schön heißt) Forschung zu betreiben und Perspektiven für so ein Forschungsgerät zu entwickeln. Braucht das Instrument ein "upgrade"? Lohnt es sich, fast 10 Millionen Euro dareinzustecken? Ist es dann Weltspitze? - Weiß ich nicht und wenn ich ehrlich sein soll interessiert es mich nicht. Es funktioniert, das genügt mir.

Wenn ich so etwas gefragt werde, da merke ich einfach, daß ich nur eingeschränkt ein Instrumentenwissenschaftler bin und sein kann (und deswegen ist ja auch alles so, wie es ist). Ich weiß wohl, wie wichtig es für Forscher ist, an der "Spitze" zu sein, Weltspitze, an der "bench" des aktuellen Geschehens. Und Investitionen lohnen sich nur dann, "if you change the league by this, it's like football", wie A. sagte. Ich verstehe das - und verstehe das nicht. Und das war schon immer mein Problem, daß ich das zwar verstehe, also nachvollziehen kann, aber im Grunde verstehe ich es nicht.

Bin ich zu bequem? Ist es mangelnder Ehrgeiz? Ich habe das einfach nicht in mir drin, daß ich irgendwo sein will, an einer Spitze, in der besten Zeitschrift, am renommiertesten Institut. Es zieht mich einfach nicht dahin. Und sollte ich dahingelangen, dann würde das geschehen, ohne daß ich es drauf angelegt hätte. Es ist einfach kein Ziel von mir, ob ich will oder nicht. Es ist mir nicht wichtig, ob ich in der Regionalliga oder in der Champions-League spiele. Spiele sind doch immer spannend, egal, in welcher Liga.

Aber gut, das ist halt mein Problem (insofern es eines ist). Ich bin in diesem Sinne nicht "science driven", das weiß ich. Ich bin auch "science driven", aber nicht nur. Ich bin auch in vierlerlei anderer Hinsicht "driven". Z. B. Schülerexperimente zu entwickeln, Klassen zu betreuen, mich an Jahresberichten zu beteiligen, Broschüren aufzulegen. Und das ist nur das, wo ich beruflich "driven" bin. Privat kommt da noch eine ganze Latte weiterer Sachen hinzu.

In diesem Sinne neige ich immer dazu, mich nicht zu sehr in eine Sache hineinzusteigern (nicht einmal in die Musik), sondern sobald es zu detailiert wird, höre ich lieber auf, weil ich schon die Erfahrung gemacht habe, daß mir das nicht gut tut und ich das auch nicht kann.

-

Es gibt nur eine Sache, bei der ich keine Bedenken habe, ins Detail zu gehen, das ist die Selbsterkenntnis. Selbsterkenntnis zieht sich mittlerweile wie ein roter Faden durch mein Leben. Das schöne an ihr ist, daß sich dort so oft alles umdreht. Das, was in der einen "realen" Welt schlecht zu sein scheint und im Moment des Erscheinens unangenehm ist, das gibt mir in der Welt der Selbsterkenntnis oft die besten Aufschlüsse, wenn ich es offen annehme. In diesem Sinne laufen diese Erfahrungswelten in entgegengesetzte Richtungen und kompensieren sich einander. Und befruchten sich auch gegenseitig.

Auch in der Selbsterkenntnis gibt es einen roten Faden. Es ist die Erkenntnis, daß nach allen möglichen Ich-Toden, also dem Sterben der Vorstellungen, die man über sich selbst und die Welt hat, immer etwas übrig bleibt, und das war auch schon immer da und ist ohne Anfang und ohne Ende.

Das Ich will nicht sterben, weil es denkt, außer es gibt es nichts und wenn es stirbt, ist alles tot und alles verloren. Daher rührt seine Angst, daher rührt aller Antrieb, aller Ehrgeiz, alles Streben in Richtung "Spitze". Es rührt von der Vorstellung einer getrennten Wesenheit, die sich gegen andere vermeintlich von ihm getrennte Wesenheiten behaupten muß.

Wenn diese Vorstellung des Getrenntseins von anderen stirbt, setzt sich eine tiefere Einsicht durch. Die gibt es aber nun mal nicht umsonst: jede Einsicht kostet ein bißchen Ich. Oder positiv formuliert: für jedes Ich, das stirbt, gibt es ein bißchen mehr vom Paradies (womit ich meine: von der Wahrheit).

MI



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Kommentare


unbekannt
18:30 27.05.2005
Gern geschehen. Ich denke du solltest weiter so schreiben, denn du schreibst ja eigentlich für dich und nicht um uns Leser zu Unterhalten. Wie gesagt ich lese sehr gerne bei dir.

So das wars jetzt aber mit den Kommentaren zu diesem Eintrag. Das wird hier sonst noch zu einem Forum .

LG und ein schönes Wochenende
Stephan75


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16:17 27.05.2005
Danke, sehr ehrlich von dir. Ich gebe das auch zu, daß es manchmal etwas lang ist. Ich nehme diesen Anstoß von dir gerne entgegen. Was nicht heißt, daß ich jetzt nur noch kurz schreibe , aber es gibt immer mal wieder Stellen, die vielleicht nicht unbedingt sein müssen und wo dann weniger vielleicht mehr ist. In diesem Sinne,
Grüße und einen schönen Tag noch, MI
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unbekannt
11:48 27.05.2005
Christin nimmt es immerhin noch mit Humor und weiß, dass ich irgendwann wieder davon lösen kann, wenn auch nicht für lange.
Ich finde, das du sehr interessant schreibst. Ich muß zwar zugeben, dass es manchmal etwas lang ist, aber wer sich wirklich für einen anderen Menschen und seine Gedanken interessiert, wird sich die Zeit nehmen, egal wie lang der Text auch ist.
LG Stephan75


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10:14 27.05.2005
Hallo Stephan!
Toll, ich hab mich schon gefragt, wer denn so einen langen Text überhaupt liest. Aber das ist hier halt kein Text-Imbiss.
Auf Sydney freue ich mich übrigens auch, ich habe da lange drüber gegrübelt, ob ich das tun soll. Erst wollte ich gar nicht, dann kamen aber immer mehr Hinweise, die darauf hinausliefen, daß ich es doch tue. Und zum Schluß lag es einfach auf der Hand, es zu tun.
Dir viel Freude an deinem schönen Spielzeug, mich elektrisiert so etwas auch so, wie Du das von dir beschreibst. Und E. reagiert darauf auch immer genau so verständnisvoll wie bei dir C.
Grüße, Michael
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unbekannt
19:50 26.05.2005
Da hast du die Wahrheit doch schon erkannt. Wenn du mit dem zufrieden bist, was du tust, warum dann nach mehr streben und sich negativen Stress zumuten? Das muß nicht sein, wenn man glücklich ist.
Und zu den Schwächen: Ein kluger Mann hat einmal gesagt, lebe mit deinen Stärken und akzeptiere deine Schwächen. Erst wenn diese akzeptiert hat, kann man an ihnen arbeiten und wirklich glücklich werden.
LG Stephan75


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