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2006- 02- 28 13: 28 Den Schmerz umarmen
Auffallend nun: die Zeit und die Jahre verführen dazu, sich um das "Eigentliche" einfach nicht mehr zu kümmern. Es ist im Grunde ein totaler Wahnsinn, aber es ist so. Man erzieht es sich gegenseitig ab. Jeder Mensch, der irgendwie noch ein offenes Herz hat, wird regelrecht dazu gedrängt, diese Öffnung zu schließen. Und tut das dann auch.
Warum tut er das? Weil ein offenes Herz schmerzt. Es tut weh. Es tut weh mitanzusehen, wie alles um einen herum immer steifer, immer festgelegter, immer abgestumpfter, immer mutloser und - immer konformer wird, damit ersteres nicht auffällt. Da, wo niemand mehr Mut hat, fällt Mutlosigkeit nicht auf. Da, wo niemand mehr einen Moment Zeit, geschweige denn Interesse an dem hat, was in seinem und im Innern des anderen vorgeht, da ist es egal, wenn man innerlich abstirbt.
Ein Herz offen zu halten, das erfordert den Einsatz von Energie. Man muß sich wehren. Man muß davon ausgehen, irgendwie immer der Dummkopf zu sein. Man fühlt sich machtlos gegen die, bei denen alles abgeriegelt ist, und fühlt sich ihnen ausgeliefert. Die (unsere) Welt funktioniert nun einmal nicht nach dem Herzen, sondern nach dem, was "gemacht werden muß" (warum auch immer "es gemacht werden muß", wer hinterfragt das denn noch?).
Interessant: das Herz muß überhaupt nichts machen. Wenn dann tut es etwas aus freien Stücken und um der Tätigkeit selber Willen. Und wenn da jemand ist, der meint, etwas müsse gemacht werden (möglichst bald am besten), dann weiß ich gleich sofort, hinter wieviel Metern Mauer dieser Mensch sein Herz eingekerkert hat. Ja, auch er weiß das: ein offenes Herz tut weh. Schön blöd, wer sich das bewahrt. Oder? Das Leben ist anstrengend genug.
Und so scheint das Älterwerden überhaupt nichts anderes zu bedeuten, als systematisch sein Herz abzuschotten und langsam innerlich zu erlöschen. Was dann noch bleibt - und dies geschieht offenbar ganz automatisch, wenn es keine Gegenwehr gibt - ist die normale Verstandestätigkeit, die angetrieben von Mißtrauen und Existenzangst einzig auf das Raffen von Besitztümern (materiell, immateriell) hinausläuft.
Man muß sich das mal vorstellen: das ist schon alles. Für 99% der Bevölkerung geht es in ihrem Leben um nichts anderes als um das. Und nur bei ein paar Wenigen bricht das Herz durch diese Mauern, weshalb sie sich verständlicherweise wie Verrückte fühlen müssen, Wahnsinnige. Sie meinen, alles wäre hier falsch, und stehen damit reichlich alleine da.
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Wenn das Herz aufbricht, dann gibt es aber weiter welche, die das in eine Depression stürzt. Da muß man dann halt durch. Und darf sich nicht wieder einreden lassen, daß daran etwas "Falsches" wäre, etwas, das überwunden werden müsse. Nein, DAS ist eigentlich die Normalität oder müßte sie sein, und es ist das Tor zur Freiheit. Wen der Alltag hierzulande nicht wenigstens einmal in eine ordentliche Depression gestürzt hat, mit DEM kann doch wohl was nicht stimmen! - Schließlich: da, wo sich das Herz nun nicht mehr weiter zurückhalten läßt, muß das Individuum (wenn ich es jetzt mal so nennen soll) mit diesem permanenten Schmerz des offenen Herzens leben Es ist im Grunde wie eine offene Wunde, die nicht verheilen will.
Es ist der Schmerz zu sehen, wie eigentlich alles sein KÖNNTE und wie es tatsächlich ist. Der Schmerz, sich partout nicht mit tradierten gesellschaftlichen Idealen und Denkmustern identifizieren zu können. Der Schmerz, selber nicht zu den Verrückten zu gehören, und daher wie ein Verrückter dazustehen. Der Schmerz des permanenten Sich-selbst-in-Frage-stellens. Der Schmerz, immer irgendwie in dieser Bringschuld zu stehen, den Gegenbeweis antreten zu müssen, daß man selber nicht der Verrückte ist. Der Schmerz, es immer nur mit komplett verschlossen, mechanischen Menschen zu tun zu haben, ohne jede erkennbare Sehnsucht, ohne Leidenschaft, ohne Inspiration, ohne Mut, ja ohne Leben. Und dies hinein bis in die privaten Lebensbereiche.
Es ist der Schmerz, dies alles zu sehen und nicht ändern zu können. Und es nicht einmal benennen zu können, ohne das Risiko einzugehen, sich alles und jeden zum Feinde zu machen. Oder - was heutzutage ja eher die Antwort ist: Kopfschütteln, Ausgrenzung, bis hin zu Ratschlägen, Bemitleidung und Spott.
Wenn allerdings erst einmal klar geworden ist, daß man um diesen Schmerz nicht herumkommt und jedes Ausweichmanöver den Schmerz nur vergrößert und noch sinnloser werden läßt, und wenn letztlich der Schmerz des eigenen "Ich-bin-irgendwie-anders"-Gefühls kleiner ist, als der stetig steigende Anpassungsschmerz an die kalte Verstandeswelt, dann gewöhnt man sich langsam an den Gedanken: man gewöhnt sich an die Präsenz von Schmerz.
Und vielleicht fällt die Akzeptanz ja auch leichter, wenn ich diesen Schmerz mal ansehe, mich nach seinem Hintergrund erkundige. Und vielleicht sollte ich ihn nicht einfach nur notgedrungen akzeptieren, sondern ihn sogar mit offenen Armen aufnehmen. Er ist ein Teil von mir, den ich ignoriert habe, der aber wieder zu mir zurück will.
Michael
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