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Tagebuch MI
2006-04-03 11:25
Annäherung
Es war der letzte Tagungstag. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, mich bei gesellschaftlichen "Ereignissen" - in diesem Fall: das Frühstück - nicht immer nur zu mir bekannten Gesichtern zu setzen, sondern ich setze mich dahin, wo es mir spontan gerade zusagt, wo auch möglichst neue Gesichter mein Umfeld bilden. Das geht mal gut, mal geht es nicht gut. Aber es kommt dann letztlich darauf an, was unterm Strich bleibt. Und für das, was bleibt, nehme ich gerne mal in Kauf, wenn es Leute vorziehen, bei einem gemeinsamen Mahl ihre Innereien zu bekargeln, wo ich dann freilich nicht mitreden kann.

Ich landete in einer Gruppe "älterer" Ostdeutscher: zwei Physiker und eine Physikerin aus Chemnitz. Da ich zuvor nur mit Westdeutschen zu tun hatte, war der Kontakt mit Ostdeutschen wie eine Welt- und Zeitreise. Und es ist wahrlich kein schlechtere Welt oder Zeit. Im Gegenteil. Es ist wohltuend. Was mir besonders gut an den Ostdeutschen gefällt, ist eine gewisse Menschlichkeit und Wärme, welche dort noch anzutreffen sind. Zumindest bei den Älteren - man muß wohl sagen: die nicht von den Westmedien gehirngewaschen sind und auf Grund ihrer Erfahrungen wohl eine gewisse Resistenz gegen Hirnwäsche durch Propagandemedien entwickelt haben (vielleicht ist der entscheidende Unterschied zwischen besagten Ostlern und den "modernen Westlern" schlicht die Abwesenheit von Gier).

Ich hatte immer die Vermutung, daß gerade diese Menschen - die älteren Ostdeutschen, eigentlich in der heutigen Zeit so eine Art "De-ja-vu"-Erlebnis haben müßten. Das war meine Theorie. Und nachdem wir uns gesprächlich ein bißchen angenähert hatten, verlief es dann auch zielstrebig in diese Richtung.

Der Osten hat ja nun seinen Offenbarungseid längst hinter sich. Ich sah da auch durchaus eine gewisse Gelassenheit in den Gesichtern. Die DDR-Bürger wußten und haben gemerkt, daß sie nur verarscht worden sind, und haben sich dagegen gewehrt und haben dadurch erst die friedliche Wiedervereinigung erzielt. "Von der UdSSR lernen heißt siegen lernen!", sagte mir einer der Gesprächsteilnehmer. So hätte es damals geheißen. Und er reckte dabei die Faust in die Höhe - und lachte.

"Und nun sollten wir das gleiche von den USA lernen", fügte er hinzu, "und haben überall Big Mäc und McDonalds!", und lachte weiter. - Ich führte das Gespräch fort und sagte, daß der Westen genau so eine Marionette der USA wäre, wie es der Osten damals für die UdSSR war. Es wäre alles genau die gleiche Geschichte. Und der Westen würde sich nun ebenfalls mehr und mehr auf eine Situation zubewegen, in der er SEINEN Offenbarungseid abzuleisten hätte.

Eine (West-)Frau zwei Stühle weiter bemerkte nun nachdenklich, daß es damals vielleicht doch alles etwas zu schnell und vor allem zu einseitig abgelaufen sei. Vielleicht hätte sich der Westen doch mal ansehen sollen, was es denn auch Gutes im Osten gab. Es gab Übereinstimmung, daß es reichlich dumm ist, erst die staatlichen KiTas reihenweise zu schließen und Schulen verkommen zu lassen, und sich dann zu wundern (und das auch noch zu beklagen), wenn die Leute keine Kinder mehr bekommen.

Schließlich kam ich mit meiner Frage zum Zuge. Ich fragte die ostdeutschen Landsleute (ja, ja, "Landsleute", welch' schönes und so antiquiertes deutsches Wort), ob sie nicht eigentlich in Anbetracht der Entwicklung eine Art "De-ja-vu"-Erlebnis hätten. Diese Frage wurde mir bejaht. Es wäre nicht nur die Entwicklung, es wäre alles, und zwar (sinngemäß): die gedrückte Stimmung, die Diskrepanz zwischen Reden und Tun, die Medienberieselung. Und dann fügte mein Gegenüber noch hinzu, daß das auch sehr frustrierend wäre. Denn man sähe sich mit etwas konfrontiert, von dem man dachte, es überwunden zu haben. Und statt sich andauernd vor den Karren der "Großmächte" spannen zu lassen, hätten die Deutschen ganz vergessen, sich mal auf sich selbst zu besinnen.

Als er das gesagt hat, herrschte eine kurze Stille am Tisch. Und man merkte, daß hier ein Punkt getroffen war, dem alle innerlich zustimmten, ohne das direkt so aussprechen zu können. Am Ende dieses sehr intensiven Frühstückgespräches sagte ich dann noch, daß hier und heute Morgen ja dann doch noch etwas zusammengewachsen wäre, was zusammengehöre. Mein Gegenüber nickte.

Michael

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