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Tagebuch MI
2006-06-07 17:10
Angst
Ein ganz anderes Thema. Mit der Angst bekomme ich es sprichwörtlich immer mehr zu tun. In einem Satz zusammengefaßt, kann ich sagen: ich habe Angst. Und: mir macht das alles Angst. Der zweite Satz trifft meine Empfindung besser. Ich kann nicht sagen, daß ich Angst hätte. Aber schon, daß mir vieles - und immer mehr - Angst macht.

Dabei sind es nicht einmal die Fakten, die mir Angst machen. Fakten machen mir überhaupt keine Angst. Angst macht mir, wie die Reaktion auf die Fakten ausfällt. Angst macht mir, wie sich alles immer weiter zuschnürt, alles immer enger wird. Angst macht mir das Gefühl, daß hier etwas abläuft, das auf Entscheidungen beruht, die nichts mit Demokratie, mit Menschenrechten, mit Grundgesetzen, Bürgerinteressen oder Volksnähe zu tun hat.

"Wir haben Krieg!", heißt es auf einer http://www.flegel-g.de/krieg-protest.html, aber keiner geht hin.

Ist das so? Ist schon wieder Krieg? Was ist das für ein komischer Krieg, der den Bürgern systematisch das Wasser abgräbt und ihm dabei noch sagt, daß das so sein müsse, weil es ja nicht immer nur aufwärts gehen kann, weil da Schulden sind, weil da Probleme sind.

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Ich hatte immer eine ganz einfache Logik: wenn ich mit Menschen um einen Tisch versammelt bin, dann teile ich gerecht auf, was auf diesem Tisch liegt. Wenn es mehr ist, bekommt jeder mehr. Wenn es weniger ist, bekommt jeder weniger.

Diese einfache Logik funktioniert nur nicht in einer "komplexen" Gesellschaft, will man mich glauben machen. Da wären Ansprüche, Interessengruppen, Verträge. Und deswegen ist es so, daß wenn weniger auf dem Tisch liegt, die, die schon länger am Tisch sitzen, immer noch das annähernd gleiche bekommen, die, die gerade erst am Tisch sitzen, deutlich weniger bekommen. Und die, die noch gar nicht am Tisch sitzen, oder die vom Tisch verdrängt wurden, es generell schwer haben, überhaupt erst (oder wieder) an den Tisch zu kommen.

Ansonsten ist der Tisch ein Gemisch aus unübersichtlichem Gerangel, wer denn nun alles verzichten müsse und in welchem Umfang. Es häufen sich Vorkommnisse, daß die, die nicht am Tisch sitzen, sich trotzdem etwas davon nehmen, und machen sich so strafbar. Es trifft sie die Verachtung derjenigen, die noch am Tisch sitzen, die Justiz tut ihr übriges. Aber was sollen sie denn sonst machen?

Zu diesem Bild kommen noch speziell für den Fall Deutschland etwas hinzu. Da Deutschland regelmäßig eine positive Handelbilanz aufweist, wird der deutsche Tisch gar nicht leerer. Mir konnte bisher noch keiner erklären, wie das in Übereinstimmung zu bringen ist, daß die deutschen Unternehmen regelmäßig Überschüsse erwirtschaften, daß aber trotzdem immer weniger da ist. Da in der Summe die Menge auf dem Tisch offenbar gleich bleibt, gibt es keinen erkennbaren Grund, weshalb immer mehr Leute, immer weniger davon bekommen.

Ach so, ich habe ganz die paar wenigen Leute vergessen, die - obwohl ja angeblich immer weniger da ist - merkwürdigerweise immer mehr bekommen.

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Es ist egal, man kommt mit diesem Bild nicht weiter. Man kommt auch mit Solidarität nicht weiter. Das interessiert alles in solchen Zeiten nicht. Doch auch dies ist ein sehr merkwürdiges Phänomen. Man sollte meinen, daß gerade in Zeiten wachsender Anforderungen die Solidarität zum Vorschein kommen sollte. Rückt man nicht zusammen, wenn Unwetter droht? Gibt man dann den menschlichen Kontakten nicht mehr Wert als in Zeiten, in denen man nicht sonderlich aufeinander angewiesen ist, weil jeder sein Auskommen hat?

Die systematische Vernichtung der Juden ist auch so ein merkwürdiges Phänomen. Wenn es nicht geschehen wäre, hätte ich gesagt, daß so etwas nicht möglich sei. Wie soll man Menschen millionenfach ihrer Würde, ihrer Habe und ihres Lebens berauben, ohne daß es zu massiver Gegenwehr kommt? Hier und da ein paar Aufstände, das war alles. Sie haben sich einfach dahinschlachten lassen. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich so viele waren, wie offiziell angegeben. Ich finde es allerdings sehr merkwürdig - und auch das macht mir übrigens Angst - daß man praktisch schon verfassungsfeindlich wird, wenn man nur andeutet, etwas an der offziell zu glaubenden Version könne vielleicht nicht so sein, wie es gesagt wird.

Wie scharf da gleich geschossen wird, ist ganz beachtlich. Und ob ich es nun will oder nicht: so etwas macht mich mißtrauisch. Ich fange dann sofort an, weiter zu graben. Ich bin der Meinung, daß Wahrheit für sich selbst spricht und weder erzwungen noch verteidigt werden kann oder muß. Wenn einer meint, Wahrheit als Doktrin verbreiten zu müssen und aus der Angst heraus, sie könne in Vergessenheit geraten, immer wieder von Neuem hervorholt und verbreitet, der erweist für mich der Wahrheit einen Bärendienst. Denn irgendwann mag man diese Wahrheit nicht mehr hören, wird ihrer überdrüssig und fängt an, an ihr zu zweifeln. Eben WEIL sie mit so einer Vehemenz vertreten - und ja: verabreicht wird. Mit demokratischen Grundsätzen ist das für mich nicht vereinbar.

Aber darum soll es hier jetzt nicht gehen. Sondern rein um das Phänomen der wehrlosen Dahinschlachtung, das man auch heute wieder bezeugen kann. Derzeit ist es "nur" die Würde, doch es geht auch schon massiv an die Habe. More to come...

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Nun soll es also die WM richten. Ich freue mich auf die WM, ich sehe mir gerne ein Länderspiel an und ich fiebere da auch richtig mit. Das ist aber auch alles. Was mir Angst macht, das sind die Heraufbeschwörer von "alten Geistern" oder "Wundern". Das sind die Leute, die mit dieser Veranstaltung sich selbst und der Welt "etwas zeigen" oder "beweisen wollen", was für ein "tolles Land Deutschland ist". Die sich Impulse durch so ein Großereignis erhoffen, einen Rausch (am besten, soeben wörtlich gefunden: einen "Kaufrausch").

So weit ist es also. Wir brauchen also einen Rausch in diesem Land, einen Kaufrausch am besten (sind die Menschen nicht berauscht genug?). Wenn so etwas von hochrangigen Politikern kommt, dann überfällt mich die Angst, von wirren, hilflosen und menschlich leeren Gestalten regiert zu werden. Sie befinden sich unentrinnbar in Denkschleifen und drehen sich im Kreis und nehmen ein ganzes Land mit auf diese Karussellfahrt. Nur ist das kein Kreis, sondern es ist eine Spirale. Und der Mittelpunkt ist nichts anderes, als der Tag der Wahrheit, der unvermeidbar kommen muß. Und auf jeden Fall macht mir das Angst.

Und mir macht Angst, wie die Menschen miteinander umgehen. Mir macht Angst, daß in der Arbeitswelt niemand mehr fragt: Wie geht es dir? Wie geht es der Familie? Mir macht die Wertereduzierung auf die erbrachte Leistung Angst. Eine Leistung, die nur nach Verstandeskriterien bewertet wird. Sind wir "weiter als im letzten Jahr"? Haben wir unser Soll erfüllt? Kurz: stimmen die Zahlen?

Mir macht Angst, daß außerhalb (von auch noch zumeist vorgeschobenen Sachthemen) niemand mehr wirklich mit dem anderen spricht, man hat kein Interesse mehr aneinander. Ist es nicht bald schon genau so wie in den Lagern? Was lohnte es sich da groß, einen anderen Menschen kennenzulernen: morgen kann er schon tot sein. Morgen kann der Nachbar schon ausgezogen sein, morgen kann der Kollege schon arbeitslos sein, morgen könnten wir schon als Feinde gegenüberstehen, als Konkurrenten um eine Stelle. Da wäre es gar nicht gut, wenn man sich vorher schon zu sehr kannte.

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Es gibt da im Übrigen eine sehr schöne Parallele und das ist auch wieder ein klassisches Spiegelphänomen: man kann nur dann an anderen Menschen interessiert sein (und dann ist es ganz egal, ob der morgen schon tot sein kann, ein "Morgen" gibt es da gar nicht), wenn man an sich selbst interessiert ist. Man kann sogar nur in dem Maße Interesse an anderen Menschen entwickeln, wie man sich für sich selbst interessiert.

Das geht Hand in Hand. Je mehr ich daran interessiert bin, etwas über mich herauszufinden, desto offener gehe ich auf einen anderen Menschen zu, desto neugieriger und unbefangener. Wer über sich selbst schon "alles weiß" bzw. wer an der einmal gewonnen Sichtweise nichts ändern möchte, der ist herzlich wenig daran interessiert, in dem Kontakt mit anderen Menschen auf Dinge zu stoßen, die mit seinem Selbstbild nicht so toll übereinstimmen. Der wird verschlossen.

Und verschlossen sind hier sehr viele Menschen, sehr, sehr viele. Und je länger dieser Zustand aufrecht erhalten und zementiert wird, desto bitterer eines Tages die Wahrheit. Nämlich um wieviele Möglichkeiten man sich selbst betrogen hat, nur weil man an den alten Sachen festhalten musste. Und trotzdem ist das wahrscheinlich immer noch besser, als sie nie zu erfahren.

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Ich habe nicht die Weisheit für mich gepachtet und ich sitze in diesem Boot, das sich "Leben" nennt, genau wie jeder andere. Und möglicherweise tut ein jeder an seiner Stelle das, von dem er/sie denkt, daß es das Richtige ist. Und wenn ich das hier nun mit dem Bade ausschütte, dann deswegen, weil ich beobachte und mir immer sicherer darin bin, daß ich einerseits Recht habe mit meinen Beobachtungen.

Und andererseits merkwürdigerweise immer mehr genau das eintrittt, was eigentlich alle gerade mit dem, was sie tun, verhindern zu wollen vorgeben. Wenn es aber sowieso eintritt: wo ist dann die Rechtfertigung, genau so weiterzumachen?

Michael

Kommentare

16:44 29.06.2006
...die braucht es nicht - es braucht nur die absicht.
am besten gepaart mit der erklärung, alles anders machen zu wollen.

ansonsten wieder toller eintrag und hast völlig recht.
und diese angst erwischt mich auch manchmal - nein, oft.
weil ich dachte, die ganze idee des humanismus sei schon viel weiter...
ist sie aber nicht.
es könnte sich durchaus entwickeln wie früher schon -
die tendenzen zur umverteilung von unten nach oben werden immer
stärker - natürlich mit dem argument der globalisierung, was ja nicht
falsch ist: statt einer nationalen oligarchie bildet sich eben eine
planetare...
und es kann, wenn die not zu gross wird, wieder zu verteilungskämpfen kommen, aber auch die werden vorübergehen, und am ende schreiben
die geschichte wieder die sieger und überlebenden...

hast mit allem recht.
leisen einspruch melde ich nur bei der juden-geschichte an...
bin mit dir noch einer meinung, dass wahrheit es nicht nötig hat,
verordnet zu werden - ich denke aber auch, dass sich das in diesem
fall überleben wird. nur - vor zwanzig oder greissig jahren hätte man wohl noch einen üblen sack aufgemacht, wenn man die beurteilung
der nazi-geschichte dem "freien spiel der kräfte" überlassen hätte.

und zur realität / wenige aufstände / keine gegenwehr..:
das war eben die besondere situation - spiel es im geiste durch:
seit jahrhunderten ohnehin antisemitismus.
für einen juden war es damals gerade ein wimpernschlag der
geschichte, dass er sich selbst so etwas wie würde zuweisen konnte.
es gab ja durchaus auch selbst juden, die an eigene minderwertigkeit
glaubten, deshalb zum christentum konvertierten - und in extremen fällen
selbst zum antisemiten wurden. zumindest die eigene geschichte
leugneten oder verdrängten.
und dann die beginnenden kampagnen der braunen pest:
alles für sich schlimm - aber am anfang noch "erträglich".
und es wurde immer schlimmer - aber nicht plötzlich drastisch
anders als vorher. manche "gewöhnten" sich daran -
manche lernten sogar, in diesem system zu überleben.

deswegen gab es keine massenaufstände.
wäre das alles über nacht gekommen, hätte es sie vielleicht gegeben.
an entrechtung waren juden schon gewöhnt.
und dass sie lebensbedrohlich wurde, zog sich über mindestens
fünf jahre hin - nicht über nacht.

ich denke, das ist schon eine hinreichende erklärung...
Soll der Kommentar wirklich gelöscht werden?
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2006-06-07 17:10