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Tagebuch MI
2006-07-21 18:17
Anatomie des Verliebens (3)
Ich war auf einer Dienstreise und habe über mehrere Tage einen Ausstellungsstand betreut. Thema der Ausstellung war Naturwissenschaft und Technik. Es war eine Gelegenheit, in die Welt der Forschungslabors hineinzusehen und Wissenschaftler zu fragen, was sie machen und auch, wozu das jeweils gut ist oder gut sein soll.

Am Samstag fand in diesem Zusammenhang eine "Lange Nacht der Wissenschaften" statt, das heißt, die Ausstellung war bis 24:00 Uhr für den Publikumsverkehr geöffnet. Es war so gegen zehn Uhr abends vielleicht, ich war mit einem Besucher in einem Gespräch vertieft, als ich eine gutaussehende Frau aus dem Augenwinkel vernahm, die gerade begann, mit einigen Gegenständen an unserem Stand zu experimentieren.

Durch die Beobachtung habe ich etwas den Gesprächsfaden verloren und war sogleich abgelenkt, ich zwang mich aber wieder in das Gespräch zurück, da ich selbst es nicht leiden kann, wenn mich ein Gesprächspartner stehen läßt, nur weil irgendwo etwas Interessanteres vorbeiläuft. Entsprechend lege ich so ein Verhalten anderen Menschen gegenüber auch nicht an den Tag und führte das Gespräch mit dem Mann zwar abgelenkt, aber geduldig, zu Ende.

Nachdem sich mein Gesprächspartner von mir verabschiedet hatte und ich feststellte, daß die Frau sich nach wie vor an unserem Stand aufhielt, ergriff ich die Gelegenheit und sprach sie an. Das war nichts Ungewöhnliches, ich habe sie angesprochen, wie ich jeden anderen Besucher an ihrer Stelle angesprochen habe, der sich neugierig und fragend mit unseren Experimenten beschäftigte. Aber ich gebe auch zu, daß in diesem Fall ihr Äußeres und ihre Erscheinung weitere Motivationsgründe waren.

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Ich erklärte ihr die Experimente und es entspann sich ein nettes Gespräch. Zu uns gesellte sich ein ebenfalls netter junger Mann, von dem ich erst nicht wußte, ob er vielleicht ihr Partner war, nach einiger Zeit konnte ich das aber ausschließen. Ich bekam nun nach und nach den Eindruck, daß dieser junge Mann nicht nur allein aus Neugierde an unserem Gespräch teilnahm, sondern daß sich seine Motivation - wie meine ja auch - aus Austauschbedürfnis UND dem Genießen der Gegenwart dieser Frau zusammensetze. Er war mir daher ein Spiegelbild.

Mich belustigte das und störte mich überhaupt nicht (es hätte mich ja auch stören können, daß sich einfach jemand zwischen mich und diese Frau drängelte). So entwickelte sich ein sehr nettes, lustiges Dreiergespräch, die beiden wollten immer mehr wissen, und ich erzählte immer mehr, bis hin zu aktuellen Forschungsthemen und Bildern aus meinem Berufsleben, die ich noch auf einem USB-Stick dabei hatte.

Und eigentlich hatte ich längst die Schwelle überschritten, an der erfahrungsgemäß die meisten Menschen einknicken, weil die Aufnahmekapazität erschöpft ist. Ich merkte auch der Frau an, daß da nichts mehr reinpaßte, sie war im Nachhinein betrachtet unheimlich geduldig. Und es kam mir an dieser Stelle schon unglaubwürdig vor, daß sie immer noch da war und mir zuhörte.

Ich lenkte dann das Gespräch dahin, daß man sich nun trennen könne, da ich alles gesagt hätte und vermutlich auch wohl nicht mehr viel aufgenommen werden könne, was die beiden bejahten. Ich fand es in diesem Moment zwar bedauerlich, daß sich unsere nette Runde nun auflösen sollte, andererseits bin ich aber auch kein Freund von künstlichen Verlängerungen. Man (bzw. frau) muß schon wissen, wann es gut ist. Außerdem war ich - nicht zuletzt - bei der Arbeit.

So verabschiedeten wir uns, bedankten uns gegenseitig für die Ausführungen und die Aufmerksamkeit, dann gingen sie davon. Gleich nachdem die beiden den Stand verlassen hatten, trennten sich auch ihre Wege, und ich dachte noch, daß nun eine bei dem Mann hinsichtlich des weiteren Abends vermutlich gewachsene Hoffnung unerfüllt bleiben würde. - So ist das ist der Hoffnung.

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Während des langen Gespräches spürte ich innerlich einen Berg von Vorurteilen. Einer davon äußerte sich darin, daß ich mich ständig gegen den Gedanken wehrte, diese Frau könne - genau so wie ich - eine gemischt zusammengesetzte Motivation haben. Sie könne also NICHT NUR allein aus Neugierde eine so lange Zeit an meinem Stand verbracht haben, sondern AUCH schlicht und ergreifend meinetwegen (und selbst wenn es so wäre, muß das ja auch noch nichts heißen).

Das zweite Vorurteil ist allgemeinerer Natur den Frauen gegenüber: nämlich daß Frauen eher kühl sind, sich nur ungern über das gebotene Maß hinaus auf jemand anderes einlassen, im Wesentlichen sachlich orientiert handeln und alles andere im stillen Kämmerlein mit sich ausmachen oder in Tagebüchern, die in einer Schublade verschwinden.

Umgekehrt denke ich, daß nur ich derjenige bin, der es fertig bringt, an einem Stand nur deswegen länger zu bleiben, weil ihm die Standbetreuung so gut gefällt. Daß nur ich es bin, der einer Frau nach Verabschiedung noch einmal hinterhersieht. Und daß nur ich es bin, der über solche Begegnungen lange Tagebuchseiten verfasst, um das für sich zu bewahren und zu verstehen.

[Bild nicht gefunden]

Nun folgt der zweite Teil der Geschichte. Während ihres Besuches hatte die Frau bei einer Gelegenheit ihre Tochter erwähnt. Sie drückte ihr Bedauern darüber aus, daß sie sie nicht dabei hätte, weil das hier alles so interessant für sie wäre. Ich stimmte zu. Als sie am folgenden Tag gemeinsam mit ihrer Tochter aber erneut an meinem Stand auftauchte, war ich trotz dieser "Vorankündigung" 100%ig überrascht - damit hatte ich nicht gerechnet. Und um so mehr freute ich mich darüber und habe die beiden herzlich begrüßt.

Sie war komplett anders angezogen, gestern eher jugendlich, heute mit bayrischer Note, was ihr sehr gut stand. Sie trug bei beiden Besuchen hohe Absätze, die sie einiges größer machten, als sie tatsächlich war. Ich habe es mir aber zur Gewohnheit gemacht, hohe Absätze intern von der Körpergröße abzuziehen, um dem wahren Bild näher zu kommen.

Etwas mehr Wahres war an diesem zweiten Besuchstag ohnehin an ihr. Sah ich am Abend zuvor nur eine gutaussehende, junge Frau mit ansteckendem Lachen, so sah ich an ihrem zweiten Besuchstag zwar auch eine hübsche Frau, aber auch eine Mutter und insgesamt einen nicht mehr ganz so jungen Menschen, der auch ein paar Falten im Gesicht trug.

Auch an mir war einiges anders. Meine Unbeschwertheit des vorangegangenen Abend war einer mir nur allzu bekannten Unsicherheit gewichen. Ich hatte auf einmal das komische Gefühl, daß es jetzt um etwas gehen würde. Ich dosierte die Blickkontakte wohlüberlegt und fühlte mich vor allem unter Beobachtung. Die weiteren üblichen Erscheinungen waren unregelmäßiges Herzschlagen, schweißige Hände und ein verengter Blickwinkel.

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Ich zeigte der Tochter einige Experimente und ließ sie damit ein bißchen hantieren. Eines der Experimente war der Bau eines kleinen Elektromotors. Dazu braucht man lediglich eine Batterie, eine Schraube, ein Kabel und einen starken Magneten. Sobald der Magnet rotiert, lacht ein jedes Kind. Ich erwähnte in diesem Zusammenhang, daß Elektromotoren ja ganz alltäglich sind, zum Beispiel gibt es sie in einer Bohrmaschine, "die kennst Du bestimmt, wenn zum Beispiel der Papa mal ein Loch in die Wand bohren muß, um ein Bild aufzuhängen". Dabei sah ich die Frau an in der Erwartung, daß sie mir zustimmen würde.

Statt dessen sah sie aber etwas verlegen zur Seite und machte eine verneinende Geste. Meine erste Interpretation war, daß hier offensichtlich die Frau die Axt im Hause war, auch wenn ich mir das nicht recht vorstellen konnte. Sie war alles in allem fein, trug goldenen Schmuck und eine schöne Uhr (mechanisch, wie sie sagte). Ich verband jedenfalls ihr Äußeres nicht mit handwerklichen Fähigkeiten. Aber man vertut sich ja oft genug.

Ich korrigierte mich also und sagte: "...oder natürlich die Mama, wenn der Papa nicht so gut bohren kann".

Da mir erst mitten im Satz einfiel, wie merkwürdig dieser Satz eigentlich klingt, habe ich den Rest eher verschluckt, denn ausgesprochen. Das ist ganz typisch für mich in solchen Momenten, immer diese Angst, etwas falsch zu machen, etwas zu sagen, daß den schönen Moment verderben könnte.

Es zeigte sich dann, daß es aber gar nicht darum ging, Sätze auf verschiedene Art und Weise zu deuten, sondern daß zu allen meinen Sätzen bezüglich "Papa" oder "Mann" anscheinend die Grundlage fehlte. Und auch meine Flucht in den Rasenmäher ("Oder im Rasenmäher, wenn der Papa den Rasen...da ist auch manchmal ein...") half nichts: es ging hier nicht darum, wer hier ein besseres handwerkliches Geschick hat, sondern vielmehr darum, daß die Worte "Papa" oder "Mann" offenbar gar nicht mit einer Person besetzt waren. Es fiel mir schwer, das zu glauben, aber anders war ihre anhaltende Verlegenheit eigentlich nun nicht mehr zu verstehen.

Ich kam mir sehr dumm vor und mir tat alles Leid. Aber nun war es zu spät. Fortan verkniff ich mir jede Bemerkung, die in diese Richtung hätte verstanden werden können, inklusive eines "Entschuldigung, tut mir Leid" oder gar "Ach so, Sie sind...", das ja zumeist auch nur alles verschlimmert und auch nur der eigenen Gewissensberuhigung dient. -

Von den einfachen Handexperimenten aus zeigte ich der Tochter noch ein paar weitere Experimentierstationen, und dies war offenbar auch erwünscht. Denn Andeutungen und Versuche meinerseits, die beiden sich fortan frei am Stand bewegen zu lassen - es gab ja auch noch andere Betreuer an dem Stand - wurden mit Warten beantwortet.

Ich machte also weiter, und es war alles einfach nett, ab und zu riskierte ich einen Blickkontakt über das Gespräch mit der Tochter hinaus und nun erkannte ich endlich, daß ich in einer klassischen "Ich-verliebe-mich-gerade"-Situation gelandet war. Dazu gehört das Überrumpeltwerden, der Genuß des Augen-Blicks, die Ungewißheit, wohin alles laufen könnte und die Angst davor, zuviel oder zuwenig zu tun und zu wollen. Und natürlich die Angst vor dem Ende des Momentes.

Nach einiger Zeit der weiteren Betreuung neigte sich der zweite Besuch der Frau, die heute auch als Mutter da war, seinem Ende. Es gab in dem Ausstellungszelt schließlich noch an die fünfzehn weitere Gelegenheiten, Naturwissenschaft und Technik näher kennenzulernen. Wir verabschiedeten uns daher voneinander und sie sagte noch, daß sie später vielleicht noch einmal vorbeikommen würde.

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Es begann eine Zeit der Ungewißheit und der Spekulation. Sie stand eine Weile noch am Nachbarstand, da fiel mir ein, daß ich ihrer Tochter noch keinen Stempel gegeben habe, sie hatte auch nicht dieses kleine Heftchen, in dem alle Stände angegeben waren. Wenn sie von allen Ständen darin einen Stempel bekommt, dann kann sie sich am Ende dafür eine Belohnung abholen.

Ich habe daher noch schnell ein neues Heftchen hervorgeholt, es an der entsprechenden Stelle abgestempelt und der Mutter überreicht, wozu ich sie kurz in einem Gespräch unterbrechen mußte (ich hielt es ihr einfach hin). Das war noch einmal sehr nett, sie bedankte sich dafür.

Sie hielt sich noch eine ganze Weile im Zelt auf, besuchte viele andere Stände, immer mal wieder mußte ich nachsehen, was sie gerade machte, ob sie überhaupt noch da war. Wenn ich sie sah, spürte ich eine Erleichterung. Sie war also noch nicht fort, vielleicht kommt sie ja noch einmal vorbei.

Im Laufe der Zeit allerdings begannen sich meine Gedanken im Kreise zu drehen. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr auf meine Standarbeit konzentrieren, sondern mußte immerzu daran denken, was ich tun sollte, wenn sie noch einmal käme. So ein netter Mensch, so eine nette Begegnung. So was passiert nicht alle Tage. Soll ich diesen Menschen einfach gehen lassen, die Chance ungenutzt verstreichen lassen? Sollte man nicht vielleicht in Kontakt bleiben?

Ich präparierte meine Visitenkarte und schrieb auch gleich meine Privatmailadresse darauf. Wenn sie noch einmal vorbeikommen würde, würde ich ihr einfach meine Karte geben und ihr sagen: "Ich würde gerne mit Ihnen in Kontakt bleiben. Schreiben Sie mir doch mal".

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Je näher aber dieser Moment rückte (daß sie noch einmal an meinen Stand kommt), dessen Existenz ja noch nicht einmal gesichert war, desto unruhiger wurde ich. Ich wurde fahrig, unsicher, zweifelte. Vor allem fühlte ich mich irgendwann wie auf einem Präsentierteller. Ich war mal wieder drauf und dran, mich wegen einer Frau und einer möglichen Situation völlig verrückt zu machen.

Ich fragte mich, was ich mir denn überhaupt davon versprechen würde, wenn ich mit ihr einen Kontakt aufrecht erhalten würde. Ich fragte mich auch, was sie denn davon haben könnte. Wenn meine Vermutungen stimmten, dann war sie eine alleinerziehende Mutter. Ich aber bin verheiratet, habe drei Kinder und ein Heim, und da geht es mir gut, ...manchmal vermisse die Körperlichkeit, ... es gibt schlimmers. Wir könnten uns beide etwas geben, für eine kurze, schöne Zeit. Nur würde das auf Dauer nicht gehen können, und eine Lösung für irgendwas war das schon gar nicht.

Aber im Grunde war es egal, was ich mich alles fragte und was ich alles dachte. Mit Denken kam ich hier nicht weiter. Mir war nur eines immer klarer: ich hatte keine Lust auf Abschied. Ich hasse Abschiede, besonders wenn es Menschen sind, die mir am Herzen liegen. Da möchte ich lieber einfach alles so stehen lassen, wie es ist, und es lebendig in Erinnerung halten und nicht den Abschied. Wozu noch der Abschied? Es ist alles gesagt worden. Bitte kein "Es war nett, vielleicht...irgendwann einmal...".

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Nach langer Standzeit, Müdigkeit und Aufenthalt in der stickigen Zeltatmosphäre verließ ich den Stand um etwas frische Luft zu schnappen und auch, um der (möglichen) Abschiedsprozedur zu entgehen, die ich so nicht wollte. So stand ich also eine Weile abseits, sah sie auf den Stand zu kommen und war froh, nun nicht dort zu sein. Offensichtlich ging ihr Besuch zu Ende, ich weiß nicht, ob sie meinen Stand und damit mich tatsächlich noch einmal aufgesucht hat - ich stand jetzt nur noch vor dem Zelt - und ich wollte es auch gar nicht wissen.

Den weiteren Verlauf überließ ich dem Zufall: links vom Zelteingang stehend bestand eine 50%ige Wahrscheinlichkeit, daß sie mir noch einmal begegnen würde, je nachdem, in welche Richtung sie das Zelt verlassen würde. Das sollte mir recht sein. Hier draußen mich ungezwungen von ihr zu verabschieden, eventuell offen genug, noch ein Wort über das Dienstliche hinaus zu verlieren, das konnte ich mir vorstellen. Ich war nur nicht in der Lage, das zu erzwingen, ich wollte, daß es der Zufall entscheidet. Einmal probierte ich es. Ich ging in das Zelt hinein, als wollte ich genau das. Dabei achtete ich darauf, ob sie mir vielleicht gerade entgegen kommt.

Sie kam mir aber nicht entgegen und der Zufall entschied, daß sie das Zelt nach rechts verließ, während ich links stand und mich gerade reckte und streckte und vom Zelteingang wegsah. Als ich mich umdrehte, sah ich sie noch, wie sie mit ihrer Tochter über die Straße ging.

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Irgendwie tat es doch etwas weh. Jetzt stand ich also da mit all meinen Gedanken, all meinen Spekulationen, all meinen - ja auch: Gefühlen. Ich hätte es mir gewünscht, sie einmal zu sprechen, ohne Standdienst, ohne Gekünstel, einfach so. Um zu erfahren, was in ihr eigentlich wohl vor sich geht. Ich konnte schließlich immer noch nicht ausschließen, daß sich bei mir nur mal wieder Hirngespinste ausgebreitet haben.

Ansonsten war das für mich okay, es war eine Situation, bei der ich sicher für alles, was ich gewonnen hätte, irgendwo auch wieder hätte zahlen müssen. Ich spürte daher in diesem Moment keine Reue. Erst als am Abend R. zu mir meinte, die Situation und das Verhalten der Frau wäre seiner Ansicht nach "eindeutig" gewesen, da merkte ich ein Stechen. Es fühlte sich an, als hätte ich eine Chance leichtfertig verstreichen lassen.

Nicht eine Chance auf ein sexuelles Abenteuer, nein, überhaupt nicht. Ich hätte es schon unglaublich aufregend gefunden, wenn ich mit ihr nur den Abend locker bei einem Glas Wein verbracht hätte. Es wäre einfach ihre Gegenwart gewesen, die mich gefreut hätte. Schon begann ich mir Vorwürfe zu machen, mal wieder an entscheidender Stelle eingeknickt zu sein. Wo war denn eigentlich das Problem? Was am Nachmittag noch unmöglich erschien - nämlich einfach am Zeltausgang auf sie zu warten, um frei vom Standdienst noch ein paar Worte mit ihr zu wechseln, vielleicht sogar ein abendliches Treffen mit ihr zu vereinbaren - das kam mir jetzt, mit etwas Abstand, betrachtet ganz einfach und wie selbstverständlich vor.

Warum habe ich es dann nicht auch einfach getan? Wie viele solcher Gelegenheiten brauche ich eigentlich noch, um so eine vom Leben angefangene Geschichte auch mal weiterzuführen und zu Ende zu führen? Und Ende heißt überhaupt nicht: Bett, sondern Ende kann auch bedeuten: Freundschaft, Verbundenheit. Es bedeutet vor allem: Klärung. Klärung, was bei ihr los ist, was bei mir los ist, ob sich das deckt, oder nicht.

Da ich es aber nicht tat, bleibe ich wieder mit der Unsicherheit zurück, daß alles nur Einbildung war und ich mich entgegen aller Indizien mal wieder verrannt haben könnte.

Ich weiß nicht, wie oft ich an diesem Abend die Zeit innerlich zurückgespult habe und überlegt habe, was mich eigentlich dazu veranlaßt hat, neben dem Zelt stehen zu bleiben und auf den Zufall zu hoffen. Ich wollte nicht schuldig sein, das spielt eine wichtige Rolle. Wäre ich aktiv auf die Frau zugegangen, dann hätte ich Schuld verspürt. Wenn es der Zufall aber (weiter) gewollt hätte, dann hätte ich mich ja bloß nicht gegen das Unvermeidbare wehren brauchen.

Alle möglichen Fallstudien habe ich durchgespielt, was wäre gewesen, wenn. Schließlich zu vorgerückter Stunde im Hotelzimmer konnte ich erst Ruhe finden, nachdem ich mich befriedigt hatte.

[Bild nicht gefunden]

In den folgenden Tagen versuchte ich die Erinnerung an die Momente aufrecht zu erhalten, ein sinnloser Kampf gegen das Vergessen. Das Gesicht der Frau wurde immer undeutlicher, ihr Lachen immer gewöhnlicher, schließlich blieb nur noch das Gefühl der Leere übrig. Auch auf der Rückreise verfolgten mich die Gedanken und die Bemühung, etwas zu konservieren, was nicht konservierbar ist. Und immer mal wieder war da Reue, nicht doch etwas mehr getan zu haben, als ich tat, um wenigstens herauszufinden, ob ich die Situation richtig eingeschätzt hatte.

Wieder zu Hause wurde ich von meiner Familie empfangen, meinen Kindern, meiner Partnerin, es gab einen Sherry im Hof mit den Nachbarn und ein kühles Bier, es gab überhaupt sehr viel und entsprechend verblasste auch sehr viel. Und was ich hier über Tage dezidiert auseinandergepflückt habe, verschwindet nun in irgendwelchen geistigen Schubladen oder Aktenordnern, es ist alles schon sehr weit weg.

Bis zum nächsten Mal, wenn alles wieder hochkommt. Dann werde ich wohl mehr riskieren müssen, wenn ich nicht wieder mit Unwissenheit und Reuegefühl zurückzukehren möchte. Es könnte sich dann allerdings auch eine andere Form der Reue einstellen, die ich nun nicht haben muß. Reue ist auch etwas komisches.

Und immerhin bin ich durch diese Geschichte um einige Vorurteile nicht zuletzt mir gegenüber ärmer beworden. Was gar nicht wenig ist.

Michael

Kommentare

19:38 21.07.2006
Danke, Tyche!
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19:28 21.07.2006
Der Zufall brachte mich auch in dein Tagebuch. So eine offene, ehrliche, präzise differenzierte und selbstkritische Beschreibung des eigenen Verhaltens bewundere ich .
LG
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unbekannt
19:04 21.07.2006
Wow, was für ein Erlebnis. Ich kenne dieses Gefühl der Reue, allerdings in anderen Zusammenhängen. Und ich muß zugeben, das ich so ein ähnliches Erlebnis nur einmal hatte, allerdings habe ich da nicht gezögert. Das Ergebnis: Christin an meiner Seite.
Ein schönes WE.

LG Stephan


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2006-07-21 18:17