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Tagebuch gin
2010-12-11 15:mm
vänern
Ich habe den See nicht gefunden. Im August schon habe ich diese Reise gebucht, diese vier Stunden eingeplant als hätte ich geahnt, das ich drei Monate später suchen werde, suchend sein werde, mich verloren haben würde und mir von den vier Stunden in Karlstad eine, sagen wir, heilende Wirkung erhofft habe. Es ist ein belastetes Wort, Religionen benutzen es, spirituelle Gruppierung jeder Art, ich mag es nicht, dieses Wort und doch sehe ich mich im Moment immer wieder zurückgeworfen auf Begriffe, die über Jahrhunderte verbraucht wurden, jetzt einen faden Beigeschmack haben; einen leeren, einen gleichzeitig vollbeladenen, überladenen Geschmack.
Heilung. Mein Ich ist eine klaffende Wunde, ich bin eine Wunde; denke ich, so füge ich mir Schmerzen zu. Ich habe Angst. Vor der Zukunft, vor der Gegenwart, vor dem Vergangenen, das in mir hoch kocht. Vor den alten Gefühlen fürchte ich mich, dem Danebenstehen, davor, dass alles aus mir kommt und ich mich deswegen nicht mehr mag. Jede Bewegung lässt mich an Wände aus Scherben und Nägeln stossen, ich muss verharren. Und aus einer schmerzhaften Angst heraus suche ich Heilung. Die Wunde, die ich bin, soll sich verschliessen; etwas in mir, muss beschlossen werden.
Ich komme hierher und weiss, dass unter dieser niedrigen Sonne, die sich hinter einem Wolkenschleier verbirgt und deren Reflektion auf dem Schnee alles in ein kaltes, graues Licht taucht, irgendwo ein See ist. Eine grosse, weisse Fläche stelle ich mir vor. Weite. Meine innere Weite. Ein Raum, wo sich alles öffnet und in Ruhe sammelt. Wo meine Stärke den Brustkorb mit Luft füllen kann und ich mich aufrichte. Diese Weite suche ich hier. Ich suche sie überall in der Landschaft, finde ich sie, bin ich überwältigt, tief bewegt. Und obwohl Landschaften ewig sein können, meine Erinnerungen sind es nicht. Und so entdecke ich mit einem Schaudern die Schönheit, die mich innerlich jubeln lässt. Sie lässt sich nicht festhalten, nur in Erinnerungen trage ich sie mit mir und bald schon sind sie verloren oder nicht mehr wahr.
Ich bin lange herumgegangen, in viele Richtungen. Ich wusste: Ich gehe, bis ich wirklich müde werde, mir kalt ist. Ich wusste: Jetzt muss ich nachdenken, ich muss alles klären mit mir, die Dinge hier an diesem Ort lassen, an den ich nie zurückkehren werde. Ich stapfe durch Schnee, trete kurz in die Domkirche ein, gehe weiter. Die Gedanken fliessen nicht, nichts wird mir klar, nichts richtet sich auf, nichts wird abgeworfen, ich trage die Schuld immer noch mit mir. Den See finde ich nicht, vermute ihn immer hinter der nächsten Biegung, dem nächsten Erdwall, über eine Brücke noch oder unter einer Unterführung hindurch. Ich gehe am zugefrorenen Kanal entlang, einer spielt darauf mit seinen Hunden. Ich werde müde, hungrig, ich beginne nach einiger Zeit etwas zu frieren. Aber keine Befreiung. Kein See. Keine Weite. Ich bin noch immer in mir, meiner Enge, meiner Kleinheit. Nichts erhebt sich und verschafft mir Klarheit. Ich gehe einfach und irgendwann kehre ich um, ohne gefunden zu haben, was ich suchte. Die Sonne steht schon tief, ich setzte mich hier in dieses Café, esse eine Suppe. Meinem Körper gebe ich ein zufriedenes Gefühl, nach der Kälte draussen endlich hinein ins Warme, etwas essen, trinken, sitzen. Und etwas in mir folgt dem Körper und akzeptiert, dass dies nicht der Tag war, dass ich zuviel wollte und zufrieden sein muss mit dem, was ich doch gefunden habe. Das wissen, dass es vielleicht für den Moment nicht anders geht. Man kann mit Wunden leben, vielleicht muss ich sie noch weiter offen tragen.

Kommentare

20:39 13.12.2010
stimmt, wer weiss
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19:11 13.12.2010
Vielleicht wirst du doch zurück kehren. Wer weiß, was das Leben bringt.
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2010-12-11 15:mm