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Tagebuch Eulchen
2018-05-02 15:01
1. Therapiesitzung bei Frau G.

Nachdem ich aus der Klinik gekommen bin, bin ich in einem Übergangswohnen in einem Haus für Borderliner gelandet.

Der Bezirk zieht mir dafür natürlich wieder mein volles Gehalt ab, und ich stehe im Monat mit 200 Euro da. Kenn ich ja schon von der Jugendhilfezeit. Wollte ich nie wieder. Ich bin kein Haustier, das nur lebt um gefütter zu werden.

Deswegen habe ich jetzt schon in Aussicht, am 25.05. in ein Zimmer als Untermieterin in eine Wohnung zu ziehen. Da steht meinerseits und seitens der Vermieterin schon alles fest. Wir verstehen uns super, aber meine gesetzliche Betreuerin muss natürlich mitreden - ufz.

Während der Zeit im Haus 9 (so nenn ich meinen derzeitigen Wohnort), habe ich Anspruch auf Therapie.

Wie es mir dabei geht, könnt ihr euch sicher vorstellen.

Nach acht Jahren gescheiterten Therapien und dieser (erneuten) fürchterlichen Erfahrung in Psychiatrien, habe ich die Nase gestrichen voll.

Die Erfahrung: "Es glaubt dir doch sowieso niemand, du wirst nie jemanden finden, der sich damit auskennt und dich versteht" wird in allen Variationen von meinen Innenanteilen bestätigt. Zumindest von den meisten. Es gibt einige, die anderer Meinung sind: Und doch sind sie eindeutig in der Unterzahl.

Sich mit all den unterschiedlichen Meinungen (und darunter meiner eigenen) erneut einer völlig neuen Therapeutin zu stellen, ist die größte Herausforderung.

Weil ich mich (wie gesagt) eigentlich sehr gut kenne, weiß ich mittlerweile, dass ich mit Menschen nicht "in Ruhe" reden kann. Es gibt immer mindestens 20 % Inhalte von dem Gespräch, die nicht Ich bestimmte/führe.

Erstgespräche bei Therapien haben mich nie weit gebracht. Die Psychologen hatten hunderttausend Informationen, aber keine Zusammenhängende, weil gewisse Informationen von anderen in mir gegeben wurden.

Dass ich deshalb jedes Mal zu hören bekam: "Und wieso genau sind Sie jetzt/bist Du jetzt bei mir? Wir kann ich Ihnen helfen?" Und ich mir jedes Mal dachte: "Ja, gute Frage. Welche der ganzen Stichtpunkte, die sie da aufgeschrieben hat (wo kommen diese ganzen Informationen überhaupt her, habe ich die gerade eben alle von mir gegeben?!) gehen wir am besten als Erstes an?"

Ich war jedes Mal verwirrter aus den Sitzungen wieder rausgekommen. Und meistens dachte ich mir dann: "Eigentlich hast du doch gar nichts. Schau dir mal die ganzen Sachen an, die du ihr erzählt hast, die sind doch völlig irrelevant, bist doch kerngesund." - Seit einigen Wochen ist mir bewusst, dass das nicht meine Einstellung ist.

Ich weiß genau, dass etwas nicht mit mir stimmt und ich dringend Unterstützung brauche. Diese Gedanken in meinem Kopf, von wegen "Du bist doch absolut gesund", sind die von "Blenderin" (hab sie so genannt, weil mir kein besseres Wort dazu einfiel).

Wie ich unterscheiden kann, dass diese Ansicht nicht die meine ist?

In meinem Kopf laufen exakt gleichzeitig diese Gedanken (nicht zeitversetzt, sondern wirklich exakt im selben Atemzug):

A: Du bist kerngesund, du brauchst keine Therapie.
B: Du brauchst dringend Hilfe, alleine kriegst du dein Leben nicht auf die Reihe.
C: Doch, doch. Das Leben kriegst du schon irgendwie auf die Reihe, aber zumindest jemanden zum Reden brauchst du.
D: Niemals! Ich werde niemals mit irgendjemandem über das reden, was passiert ist!

Als Antwort:
C: Solltest du aber.

Dieser ganez Scheiß ist verdammt schwer zu erklären.

Es ist, als würde ich bei jedem Gespräch oder bei (fast) jeder zwischenmenschlichen Begegnung meinen Kopf mit mehreren Personen teilen. Und das ist nicht gerade einfach.

Das Chaos im Kopf kenne ich schon mein Leben lang.

Ich dachte immer, dass das normal ist. Jeder wird in seinem Kopf diese Diskussionen haben. Anders geht nicht.

 

Da mir all diese sinnlosen Therapien im Kopf geblieben sind und ich mittlerweile weiß, dass diese durchsickernden Informationen nicht meiner "Unaufmerksamkeit" zuzuschreiben sind, habe ich mir gestern noch ganz spontan überlegt, der Therapeutin schriftlich mitzuteilen, was da "in mir drinnen" los ist. Denn wenn ich schreibe, ist mein Kopf (meistens - nicht immer) ruhiger als sonst.

Ich schickte ihr ohne lange zu überlegen den Eintrag, den ich zuletzt hier geschrieben habe.

Als ich heute bei der 1. Sitzung war, stellte sie mir gleich Fragen, die ich noch nie gehört hatte. Aber sie schien mich zu lesen. Ab und zu musste ich total verlegen lachen, weil sie absolut ins Schwarze traf: "Hatten Sie in ihrem Schrank zum Beispiel auch Klamotten, von denen Sie nicht wissen, wo sie herkommen?"

Bei der Frage musste ich tatsächlich lachen.
"Nicht nur das! Darunter sind Teile, die absolut unmöglich sind und die ich niemals anziehen würde."

Wäre ich ein Mensch, der schnell rot wird, wäre ich in dem Moment sicher angelaufen wie eine rote Tomate, weil ich mich in diesem Zusammenhang vor allem an diese seltsamen, roten Spitzenkleider erinnern muss, die ich in der Klinik in meinem Schrank fand. Oder aber auch wenn ich Klamotten bestellt hatte und hier und da Teile dabei waren, bei denen ich mich wunderte sie jemals bestellt zu haben. Ich dachte immer, dass entweder ich zufällig auf einen falschen Link gekommen bin oder die Firma einen Fehler gemacht hat.

Jetzt weiß ich, dass es sogar möglich ist, dass während ich im Internet Klamotten shoppe (was ich eher selten mache), ein Anteil in mir plötzlich ein Kleidungsstück sieht, das ihm gefällt und in den Warenkorb legt, ohne dass ich es mitkriege.

Diese Switchs können also auch einfach mal für eine kurze Handlung herauskommen.

Quasi, als würde "sie" neben mir sitzen und mit in den Computer schauen. Wenn sie etwas sieht schreit sie: "Oh mein Gott, das will ich haben!", schubst mich "aus meinem Körper", übernimmt die Maus, klickt auf "In den Warenkorb" und verschwindet dann wieder. Und ich shoppe einfach weiter, weil ich gar nicht bemerkt habe, wie das passiert.

Das meine ich, dass Dinge, die ich früher als total verwirrend und seltsam empfand und nicht verstehen konnte, plötzlich so simpel zu erklären sind. Es ist fast schon banal, so logisch ist es.

Aber wie soll man darauf kommen, wenn man nichts von den "Personen" in sich selbst weiß?

Sie fragte auch, ob ich Tagebuch schreibe. Ohne dass ich sie darauf angesprochen hätte, erwähnte sie auch als ein typisches "Merkmal" die verschiedenen Handschriften. Und ich musste wieder lachen, weil es einfach so absurd ist.

Sie bestätigte mir einfach mit jedem Satz, dass ich nicht verrückt bin und mir das nicht einbilde. Sie ist die erste Person gewesen, die mir nicht unterstellt, ich sei eine Lügnerin oder Schauspielerin. Sie glaubte mir einfach.

Irgendwie ist das Dumme jetzt, dass ich 50 Minuten bei ihr war, mich aber wieder nur an sehr wenig erinnern kann.

Ich weiß jedenfalls, dass sie mir noch erzählte, sie hätte schon einmal eine Patientin mit einer DIS gehabt, und dass alles, was ich erzähle, sich für sie sehr danach anhört.

Ich fragte sie, wie man denn feststellen kann, ob ich das wirklich "habe". Und sie meinte dann nur schmunzelnd: "Na ja, indem wir mal schauen, ob sie auf die Therapie anspringen. Aber allgemein hört sich das für mich alles sehr danach an."

Ich war kurz wirklich sprachlos. Keine Tests, keine blöden Bögen oder Fragen ausfüllen. Sie will sich einfach die Zeit nehmen und versuchen, ob es so funktioniert, wenn wir einfach mal so "tun" als "hätte ich das wirklich". Ich muss sagen: Das finde ich genial.

 

Sie fragte mich irgendwann relativ zu Anfang auch, ob mich gerade Innenpersonen begleiten. Ich schaute sie an, fühlte mich fast ein wenig ertappt (weiß aber nicht warum, denn eigentlich habe ich das ja so ähnlich erklärt, oder nicht?...) jedenfalls hatte ich das Gefühl, sie würde mich bei etwas "erwischen", was sie nicht wissen darf. (Wieder so ein paradoxes Gefühl/Gedanke).

Ich zögerte mit meiner Reaktion, weil sie mal wieder absolut ins Schwarze getroffen hat. Schließlich nickte ich.

Ich dachte, sie fragt anschließen, was ich höre oder sie sagen.

Aber stattdessen fragte sie: "Und wie viele sind es?"

Und wieder brachte mich diese unerwartete Frage kurz aus der Fassung.

Natürlich kommen mir, wenn ich jetzt so in Ruhe hier sitze, ein paar ganz klare Zahlen/Personen vor Augen. Ca. fünf, von denen ich ganz bewusst sagen kann: "Ja, sie sind da!". Aber ich höre/spüre noch viel viel mehr in mir. Diese fünf sind aber diejenigen, die ich gut unterscheiden und häufig relativ deutlich hören kann. Darunter am stärksten und "lautesten" Wave. Bzw... sie nennt sich selbst lieber Vivi. Ich weiß nicht, warum sie so auf diesen Namen beharrt. Ich finde ihn absolut schrecklich. Aber okay. (Und jetzt werde ich für diesen Gedanken gerade von ihr beleidigt....)

Aber in der Sitzung konnte ich Frau G. diese Antwort nicht geben. Ich fühlte mich auch die ganz Zeit nicht wirklich anwesend. Ich war schon irgendwie da, aber irgendwie auch nicht. Schwer zu erklären. Und dann eben gleichzeitig noch diese tausend verschiedenen Meinungen in meinem Kopf - es ist einfach furchtbar anstrengend, sich da zu konzentrieren.

Ich antwortete also darauf mit: "Ich weiß es gerade nicht. Ich habe fühle mich gerade auch nicht wirklich da. Da ist so viel Geplapper in mir und ich höre nur wenige heraus."

Dann fragte sie, irgendwas... ich weiß nicht... ab hier ist alles durcheinander.

Das nächste woran ich mich erinnere ist, wie ich auf die Uhr schaue... sie fragt mich... puh... keine Ahnung mehr, was sie fragte. Irgendwas fragte sie mich jedenfalls. Es war 10:45 Uhr, als ich auf die Uhr sah.

Jedenfalls ging es dann noch darum, dass sie mir erklärte, was das Ziel bei so einem "Störungsbild" sei. Sie sagte, ich hätte das bestimmt schonmal gehört und sie erzählte mir, dass ihre Patientin damals irgendwann so weit war, dass sie mit ihren Anteilen einmal wöchentlich eine "Konferenzsitzung" machen konnte.

Sie setzten sich alle an einen Tisch und tauschten sich aus. Jeder kam einmal zu Wort.

Sie erklärte mir auch, dass jeder Anteil seine eigenen Bedürfnisse hat, die am Tag irgendwie einteilt werden müssen. Damit die "Kinder-Anteile" nicht in der Arbeit rumhampeln oder die "Erwachsenen-Anteile" sich im Alltag nicht unausgelastet fühlen etc. Ich dachte in der Sekunde: "Mein Tag fühlt sich für mich allein schon viel zu kurz an." Und im sleben Augenblick sagte sie: "Meine Patientin sagte dann aber immer: 'Aber der Tag ist viel zu kurz dafür'."

Auch da verschlug es mir wieder die Sprache.

Meine Tage verfliegen. Das war schon immer so. Es gibt für mich so selten Tage, die zu lange dauern. Ich habe schon immer das Gefühl gehabt, dass ein Tag für all das, was ich eigentlich noch machen wollte, viel zu kurz ist, ohne dass ich wirklich wusste, was ich noch alles tun muss/will. Ich weiß nur, dass ich noch irgendwas zu erledigen habe... = auch sehr anstrengend!

Damit so eine Zusammenarbeit aber funktioniert, muss ich aber erst einmal alle Anteile in mir kennen lernen - und sie sich.

Das hörte sich für mich klasse an. Ich dachte mir so: N"a klar, locker easy. Wann fangen wir an? Hört sich doch super an! Ist ein Kinderspiel!"

Beinahe hätte ich in die Hände geklatscht und das wirklich gesagt. In der Theorie hört sich das nämlich wirklich so leicht und logisch an.

Meine erste Hausaufgabe ist also auch, im Tagebuch/Block mal ganz gezielt nach Namen und Alter zu fragen. Sie sprach in dem Moment "zu allen in mir". Sie meinte, sie wüsste ja nicht, ob es schon Anteile gibt, die sie gerade mit-beobachten (ich nickte automatisch... instinktiv, es kam einfach). Und dann sprach sie .. "zu allen". In dem Moment habe ich aber extrem dissoziiert. Ich war zwar ich(!) aber... irgendwie sehr, sehr neben mir. Als würde ich tatsächlich mit mehreren Ohren gleichzeitig zuhören (schwer zu erklären).

Zum Ende hin fragte ich dann noch, wie lange so etwas dauern würde...

Sie sah mir in die Augen und sagte: "Jahre."

Ich muss sagen, in dem Moment war mein Optimismus dahin. Ich hätte fast geheult, habe mich aber beherrscht.

Jahre.

Sie hat wirklich Jahre gesagt.

Ich weiß nicht, was ich mir eingebildet habe. Dass ich in vier Wochen alle in mir kennen lerne?

Dass ich in weiteren vier Wochen schaffe, ihre Bedürfnisse, Funktionen und Erinnerungen und ihr Wissen zu erfahren?

Dass ich es in den weiteren... wer weiß, sechs Wochen? hinkriege, dass wir alle in unserem "Konferenzraum" sitzen und uns über den Tag austauschen?

Als ich heute, als sie mich nach "wie viele" gefragt hat, kurz in meinem Inneren Ort war (ich kann gleichzeitig meinen inneren Ort und die Realität sehen, ich muss dafür nicht die Augen schließen), habe ich noch so viele Schatten hinter Bäumen versteckt gesehen, von denen ich ausgehe, dass das alles noch Anteile sind, die ich nicht kenne.

Diese Antwort war sehr niederschmetternd.

Aber was habe ich anderes erwartet?... Etwas, was sich über Jahre hinweg so in meinem inneren aufgebaut, strukturiert, versteckt und funktioniert hat - einfach mit einem Fingerschnippen über den Haufen rennen und die Kontrolle übernehmen?

Ja, das ist meine Wunschvorstellungung.

Aber leider ist die Realität doch immer ganz anders, als wie man sie gerne hätte.

Vor mir hat sich die Wahrheit jahrelang versteckt.

 

 


 

Kommentare

16:39 03.05.2018
Danke... ♥
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07:48 03.05.2018
Den allerwichtigsten schritt hast du! Egal, wie lange es dauert!!
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16:23 02.05.2018
Ich bin wirklich sehr beeindruckt von dir, dass du das so angehst. Du wirst das packen.
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