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Tagebuch Doc12
2010-08-27 09:11
Der weinende Clown - 36

Bruno lief der Schweiß in kleinen Bächen von der Stirn. Er hatte gerade einmal eine gute halbe Stunde geschrieben. Die Sätze waren ihm nur so in die Tastatur getropft und rasend schnell auf dem Monitor erschienen, um gleich danach wieder zu verschwinden und für den nächsten Absatz Platz zu machen. Er schüttelte den Kopf. Noch nie während seiner ganzen Zeit als Schriftsteller war ihm so etwas passiert. Er las den Text wieder und wieder und verstand wohl die Handlung, doch der Sinn dahinter blieb ihm verborgen. Ihm war absolut unklar, weshalb er das alles geschrieben hatte. Das werde ich wohl gründlich hinterfragen müssen, überlegte er. Er empfand die Vorstellung eines Schriftstellers, der zwar schrieb wie ein Automat, aber nicht wusste, was, als äußerst befremdend, in gewisser Weise sogar höchst beunruhigend ...

Das wiederholte Knurren seines Magens riss ihn aus seinen Überlegungen und erinnerte ihn unerbittlich daran, dass er hungrig war. Er ging in die Küche, aß eine Kleinigkeit, dann setzte er sich vor den Fernsehapparat, nahm die Fernbedienung und quälte sich durch die Flut der Programme. Schließlich blieb er bei einer Diskussion, die den „Bankrott des Sozialstaats“ zum Thema hatte, hängen, verfolgte sie eine Zeit lang, war aber letztendlich doch zu müde, um ihr auf  Dauer konzentriert zu folgen, obwohl ihn die Thematik durchaus interessiert hätte. Nach ein paar Minuten war er in seinem Fernsehsessel eingeschlafen.

Der alte Mann, in einen schäbigen grauen Mantel gekleidet, saß an seinem Küchentisch und starrte ins Leere. Er wirkte ausgezehrt und abgemagert. Bruno betrat die Küche, sah den Mann sitzen und wunderte sich. Für einen Moment lang blieb er überrascht stehen, dann fragte er: „Wer sind Sie und was wollen Sie hier in meiner Küche?“
„Ich ruhe mich nur etwas aus, gestatten Sie mir das?“
„Und das ausgerechnet in meiner Küche? Wer sind Sie? Wie heißen Sie?“
„Ich bin der Sozialstaat.“
„Sie sind wer??“
„Der Sozialstaat.“
„So, so. Und Sie möchten sich bei mir ausruhen ...“
„Das auch. Aber ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann.“
„Und Sie glauben, ich sei dafür der Richtige?“, fragte Bruno.
„Ich bin mir nicht sicher, aber es könnte durchaus sein.“
„Über was möchten Sie mit mir reden?“
„Über meine Probleme.“
„Ich glaube kaum, dass ich Ihnen helfen kann, tut mir leid. Sie sollten jetzt besser gehen.“
„Ich bitte Sie – hören Sie mir nur ein paar Minuten zu“, sagte der Mann, der sich Sozialstaat nannte.

„Gut. Wenn Ihnen das hilft ...“ Bruno zuckte ratlos mit den Schultern.
„Sehen Sie“, begann der Mann, „meine Probleme sind ernst – so wie es ist, kann es nicht weitergehen. Ich verausgabe mich ständig.“
„Dann hören Sie halt auf damit“, antwortete Bruno lakonisch.
„Das kann ich nicht. Ich bin für alles zuständig und werde für alles verantwortlich gemacht, wissen Sie. Doch ich bin kraftlos, liege am Boden, ich fühle, dass ich langsam sterbe. Ich kann nicht mehr. Ich muss vor den überzogenen Ansprüchen meiner Bürger kapitulieren.“
„Warum müssen Sie das?“, wollte Bruno wissen.
„Ich habe mich wegen der sozialpolitischen Ziele ziemlich hoch verschuldet. Kranken- und Pflegeversicherung, die Unterstützung der wirtschaftlich Schwachen, die Förderung kinderreicher Familien, Spätaussiedlern, Drogenabhängigen – von der Rentenversicherung ganz zu schweigen – egal was, all dies kostet mich ein Vermögen.“
„Tja, das ist bedauerlich – aber Sie mischen sich ja auch in alles ein. Selbst in Dinge, die Sie absolut gar nichts angehen. Dazu kommen Ausgaben, die überhaupt nicht sein müssten oder längst abgeschafft gehören. Und Sie gehen mit den vereinnahmten Steuergeldern sehr verantwortungslos und leichtfertig um“, meinte Bruno.

Anscheinend hatte der Mann die letzten Worte überhört, er ging nicht darauf ein, sondern redete unbeirrt weiter: „Ich stehe damit übrigens nicht allein auf der Welt, auch meinen Kollegen in anderen sozialpolitisch organisierten Ländern geht es ebenso. Die Parteien versuchen zwar immer, mich wieder auf Vordermann zu trimmen, sie nennen es Umbau, doch keiner weiß, wie das gehen soll. Ich vermute eher, es geht um einen Abbau. Vermutlich wird es mich bald nicht mehr geben und an meine Stelle tritt etwas anderes.“

„Nun ja, die Zeiten ändern sich – was gestern gut war, muss es heute  nicht mehr sein“, antwortete Bruno.

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