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Tagebuch c.
2010-12-04 18:39
Wie viel Selbst darf es denn heute sein?
Vor einiger Zeit lief im Rahmen des „kleinen Fernsehspiels“ eine Dokumentation über Prostitution im Alter. „Frauenzimmer“ hieß sie und war sehr viel leiser und feinfühliger gemacht als der ganze schrille und grellbunte Mist, den die gängigen Privatsender zu diesen Themen verzapfen.

Falls es interessiert, hier geht es zu den entsprechenden Seiten zum Film auf der Homepage und in der Mediathek:

http://daskleinefernsehspiel.zdf.de/ZDFde/inhalt/12/0,1872,7482028,00.html

http://www.zdf.de/ZDFmediathek/hauptnavigation/startseite/#/suche/frauenzimmer

Zwei der dort porträtierten Ladys entschieden sich erst in ihrer zweiten Lebenshälfte für diesen Beruf. Eine von ihnen, die Domina Karolina, hat mich zutiefst beeindruckt. Sie hat sich im Alter von etwa fünfzig Jahren zwei Wochen vor der Silberhochzeit, einvernehmlich, von ihrem Mann getrennt und ist mit Sack und Pack nach Berlin gegangen, um dort Domina zu werden.

Das sind natürlich eine krasse Entscheidung und eine krasse Berufswahl. Aber sie sagt, sie habe sich ein Leben lang den Erwartungen der anderen angepasst bis zu dem Punkt, an dem sie entschied, sich endlich selbst zu verwirklichen. Diesen Wunsch, dieses Bedürfnis, hat sie mit verschiedenen Sprüchen untermauert, die sie teilweise als Tätowierung unter ihrer Haut jeden Tag mit sich trägt.

Nur wenn ich mitspiele, kann ich gewinnen.

Am Ende meines Lebens möchte ich nicht sagen müssen: „Mein Leben hat allen gefallen nur mir nicht.“


Ist das zu einfach formuliert? Etwas Kompliziertes simpel ausgedrückt? Wahrheit liegt sicherlich in dem ersten von ihnen. Wünschenswert ist es, was der zweite besagt.

Mittlerweile hat sie wohl wieder ein neues Kapitel in ihrem Leben aufgeschlagen. Jetzt wo sie 65 Jahre alt ist, hat sie ihr Studio geschlossen und lernt das Tätowieren. Um nicht „dem Leben Jahre, sondern den Jahren Leben zu geben“.

Ich finde es wirklich toll und unglaublich bewundernswert, dass sie sich auslebt und selbst verwirklicht. Ich würde es gerne auch können.

Was mich hindert ist die Frage, wie viel Selbstverwirklichung um welchen Preis sein darf.

Ich habe weder das Buch „Eat, Pray, Love“ gelesen, noch den dazugehörigen Film gesehen, aber vor einiger Zeit erschien dazu eine recht böse Rezension im FAZ-Blog, die mir gefiel. Der Verfasser schrieb Dinge wie:

„Eat, Pray, Love“ spielt in einer Zeit, in der an die Stelle der Liebe zu einem anderen die Suche nach seinem Selbst gerückt ist. Das riesige, ewig hungrige Selbst, das niemanden neben sich duldet, das ergründet und befühlt, bemeditiert und gepriesen werden will.

Und:

Bevor man sich jetzt beruhigt zurücklehnen möchte, weil doch bestimmt nur wahnsinnige Amerikaner auf so etwas herein fallen: Nirgendwo war der Film außerhalb der USA so erfolgreich wie in Deutschland. Sie sind mitten unter uns. Goodbye, Love. Hallo, Selbst.

(Zum ganzen Artikel geht es hier: http://faz-community.faz.net/blogs/deus/archive/2010/11/18/eat-pray-was.aspx )

Das ist eben der springende Punkt, der mich beschäftigt. Wir sind nun mal nicht alleine auf der Welt. Setze an die Stelle von „Liebe“ „Rücksichtnahme“ und es beschreibt mein Dilemma.

Ich finde es toll, dass sich diese Karolina dazu entschied, sich endlich auszuleben und nicht länger anzupassen. Aber ihre Entscheidung war für die zurückgebliebene Familie, für ihre Kinder sicher nicht leicht, auch wenn die damals bereits „erwachsen“ waren. Und wenn die Tochter dem Fernsehteam brav erklärte, dass sie inzwischen keinerlei Probleme mehr hat mit dem Job ihrer Mutter, wird das bestimmt nicht immer so gewesen sein.

Andererseits sollte ein erwachsener Mensch niemandem Rechenschaft über seine Schritte schulden müssen. Und es gehört wohl sicher auch zu einem erwachsenen und selbstbestimmten Leben dazu, hier und da unpopuläre Entscheidungen zu treffen.

Aber wo zieht man da die Grenze? Was ist ok? Was geht definitiv zu weit? Ab welchem Punkt wird Selbstverwirklichen rücksichtslos und unverantwortlich?

Mir persönlich geht wohl ein gesundes und lebensnotweniges Maß an Egoismus völlig ab. Ich habe unheimliche Angst davor, Menschen, an denen mir etwas liegt, vor den Kopf zu stoßen. Lieber passe ich mich ihren vermeintlichen Wünschen an und bin selbst nicht glücklich dabei.

Aber das kann es irgendwie auch nicht sein. Ich verschwende meine besten Jahre. Ich will nicht erst in zwanzig Jahren damit anfangen, meinen eigenen Weg zu gehen, wenn auf natürlichem Weg die Menschen, die sich daran stören könnten, aus meinem Leben geschieden sind.

Nun gehöre ich auch zu den Menschen, die zu einer gewissen Demut erzogen worden sind oder eben entsprechend zu Recht gestutzt wurden. Ich bin ein typischer Vertreter all derjenigen, denen man beibrachte, dass es „ich möchte“ und nicht „ich will“ zu heißen hat. Es fällt mir schwer, wirklich schwer, Sätze zu formulieren, die mit „Ich will“ beginnen. Umso schwerer, oftmals fast undenkbar, ist es, entsprechend zu handeln.

Das Leben ist kein Wunschkonzert.

Das ist der passende Spruch all derjenigen, die stetig predigen, dass das Leben nicht nur nach dem Lustprinzip funktionieren kann, dass auf Dauer Rücksichtnahme angesagt ist und es Kompromissen bedarf.

Wahrscheinlich liegt die Wahrheit, wie so oft, irgendwo dazwischen. Denn gnadenlose Selbstverwirklichung nach dem Motto „Friss oder stirb!“/ „Sieh zu, wie du mit meinem Weg klarkommst, das ist dein Problem.“, kann es schließlich auch nicht sein.

Aber wie und wo findet man die goldene Mitte? Wie viel „Selbst“ darf es heutzutage sein? Wo fängt der rücksichtslose Egoismus all derer, die auch über Leichen gehen würden, denn nun an?

Wie gesagt, diese Karolina aus der Dokumentation hat mich unheimlich beeindruckt. Ich finde es wahnsinnig bewundernswert, dass sie es zu einem doch eher fortgeschrittenen Zeitpunkt in ihrem Leben noch gewagt hat, sich endlich selbst auszuleben. Dieser Schritt hat sicherlich sehr viel Mut gekostet und das ist bemerkenswert und sollte auf jeden Fall entsprechend gewürdigt werden. Aber…auf ihrem Weg wird sie sicherlich einige Leute vor den Kopf gestoßen haben und ob diese Radikalität wirklich nötig war….Man weiß es nicht.

Schwierige Fragen und keine Antwort. Zu mindestens ich finde für mich und mein Leben keine, die mich auch befriedigen würde.

Kommentare

10:18 06.12.2010
spannendes thema. ich denke, man sollte zumindest die regeln kennen um dann entscheiden zu können, was man davon bricht. aber oft steckt man auch zu sehr fest in den erworbenen dispositionen, wie du es hier beschreibst. ich denke der punkt ist das glück, und da ist der eine mehr auf sich selbst bezogen und der andere auf die ansicht der anderen: wenn man selbst mit seinem leben nicht glücklich ist, sollte man etwas ändern. und man kann es sowieso nie allen recht machen.
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19:44 04.12.2010
Natürlich ist es eine Gratwanderung, wenn man zwischen Egoismus und Altruismus einen Weg suchen muss. Aber ich denke, es ist wichtig, auch demonstrativ egoistisch zu sein. Nur wenn man 'ich' sagt, nehmen andere Leute einen doch auch als Person war. Ansonsten ist man immer nur eine Art Schatten seiner selbst, wenn man immer versucht, es allen Leuten Recht zu machen, aus welchen Gründen auch immer. Ich denke, dass Schuldgefühle (ob berechtigt oder unberechtigt sei jetzt einmal dahingestellt) eine große Rolle dabei spielen.
Ich habe früher auch immer zu allem ja und Amen gesagt. Habe mich angepasst und so. Ich war auch nicht glücklich dabei.
Es fällt mir auch heute immer noch schwer, nein zu sagen, aber in manchen Situationen sage ich ganz bewusst nein. Das kann man lernen. Und nein sagen hat nichts mit unerzogen sein oder unhöflich sein zu tun.
Manchmal muss man zu anderen nein sagen, um zu sich selbst ja sagen zu können.
Ich denke, das gesunde Maß an Egoismus ist dann überschritten, wenn es andere Menschen negativ in ihrem Leben beeinflusst. Also so richtig, nicht nur, wenn der andere durch ein nein beleidigt ist oder so.
Wenn eine Mutter ihre Kinder beim Vater zurücklässt, um sich ein schönes Leben mit einem anderen Kerl zu machen, finde ich das einfach nur übertrieben egoistisch, schließlich brauchen Kinder ihre Mutter.
Wenn man aber beispielsweise einmal nein sagt, weil man vielleicht nicht zum wöchentlichen Familienessen kommen kann, weil man z.B. eine wichtige Hausarbeit zuende schreiben muss oder in Ruhe lernen möchte, dann ist das absolut gesunder Egoismus.
Man kann innerhalb der eigenen Grenzen einen gesunden Egoismus entwickeln, wenn man zwischen den wichtigen und den nicht so wichtigen Dingen unterscheiden lernt. Ist es jetzt wichtig, dass ich mich mit jemandem zum Lernen treffe, obwohl ich nur alleine gut lernen kann? Nein, weil es auch wichtig ist, dass man selber lernt. Nur so als Beispiel.
Erwachsen zu sein heißt auch, eigenverantwortlich zu handeln. Insbesondere sich selbst gegenüber.
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2010-12-04 18:39