Willkommen auf Tagtt!
Saturday, 20. April 2024
Tagebücher » c. » News, Bilder, Videos - Online
Tagebuch c.
2011-03-31 13:33
Me going semi-criminal. Beinahe.

Schulungstage, Probearbeitstage und Kurzpraktika (oder wie auch immer man sie nennen will) sind ein wichtiger Bestandteil im Bewerbungsprozess. Sie geben dem Bewerber Einblick in die täglich anfallenden Aufgaben. Der Unternehmer auf der anderen Seite erhält einen Eindruck von der Arbeitsweise des Bewerbers. Aufgrund solcher erster Arbeitserfahrungen können am Ende beide Seiten entscheiden, ob eine Zusammenarbeit für sie in Frage kommt. Deswegen sollte man derartige Einladungen als Bewerber immer annehmen.

 

Vorgestern ergab sich für mich die wirklich einmalige Gelegenheit, an so einer wertvollen Erfahrung teilnehmen zu können. Hochmotiviert und unglaublich nervös startete ich in den Tag. Die Nacht zuvor war kurz gewesen. Sie endete um zwei in der Früh. Aber wir wissen ja: Schlaf wird überbewertet.

 

Nun gut, bei meinem potentiellen Arbeitgeber erwartete mich ein überraschendes Arbeitsfeld. Es stellte sich schnell heraus, dass der angebotene Job ein hervorragendes Trainingsfeld für wichtige Soft Skills wie Teamfähigkeit, Durchsetzungsvermögen, Kommunikationsfähigkeit, Motivation, Fleiß, Flexibilität, Kundenorientierung und Beratungskompetenz sein würde. Eine starke Persönlichkeit, ausgeprägtes Selbstbewusstsein sowie überdurchschnittliches Verhandlungsgeschick gehören zu den Eigenschaften, die man für diesen Beruf am besten von Vorneherein mitbringt. Es erwartete mich ein aufregender Tag in einem jungen, dynamischen und multikulturellen Team und ich kann mich glücklich schätzen, dass ich an diesem Tag so viele neue Eindrücke sammeln konnte. Die Möglichkeit, das wunderschöne Wetter am vergangenen Dienstag auch noch voll auskosten zu können, rundete diesen durch und durch erstaunlichen Arbeitstag ab.

 

Wo findet man sonst so ideale Arbeitsbedingungen? Kein Wunder, dass ich im Abschlussgespräch am Ende des Tages mündlich den Arbeitsbeginn für den kommenden Montag gleich zusagte. Denn niemand würde freiwillig auf so einen Traumjob verzichten. Versteht sich.

<b>.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.</b>

So. Und jetzt mal im Ernst:

 

Am Montagabend war ich eigentlich gut eingeschlafen. Um zwei wurde ich wach. Ein erneutes Einschlafen stellte sich als schwierig heraus. Ich war nervös, machte mir Sorgen, Hoffnungen, alles zugleich. Da ich eh nicht einschlafen konnte, beschloss ich irgendwann aufzustehen. Im Zweifel ist man für den Rest des Tages ja doch fitter, wenn man zu nachtschlafender Zeit aufsteht anstatt sich bis in die frühen Morgenstunden von einer Seite des Bettes zur anderen zu wälzen und nur noch auf zufällige, recht kurze Schlafphasen hoffen darf.

 

Im Businesslook solle ich erscheinen. Das hatte mir der Inhaber letzte Woche im fünfminütigen Vorstellungsgespräch mit auf den Weg gegeben. Die Arbeit mit Menschen, rund um die Uhr, das sei sein Geschäft. Hervorragende Einstiegsbedingungen für mich. Es gibt kaum Kleidung, in der ich mich unwohler fühle als im Hosenanzug/Kostüm. Das bin einfach nicht mehr ich, so was tragen zu müssen macht mich dann von vorneherein noch unsicherer, als ich es eh schon bin. Darüber hinaus bin ich ja doch in letzter Zeit eher etwas menschenscheu gewesen und die Aussicht, den ganzen Tag lang unter vielen Leuten zu sein, hatte schon etwas Erschreckendes an sich. Aber ich wollte den Job, denn ich erwartete einen Arbeitstag in einem Großraumbüro voller Kundenbetreuung für ein namhaftes Telekommunikationsunternehmen.

 

Das Erstaunliche bei mir ist, aber das sei nur am Rande erwähnt: Je mehr Zeit ich morgens vor einem Termin habe, desto knapper komme ich aus dem Haus. Auch am Dienstag war ich spät dran und musste weiter als geplant mit dem Auto fahren, um den passenden Zug noch zu kriegen. Tagesparkgebühren in Höhe von drei Euro waren ein zusätzliches Schmankerl, auf das ich auch hätte verzichten können. Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, passierte mir dann noch das, was mich ja sowieso immer innerlich jubeln lässt: Ich nahm die Treppen zum Bahnsteig zu schnell, stolperte und legte mich voll auf die Schnauze. Dabei schlug ich mir zwar das rechte Knie auf, aber meine schwarze Business-Hose bleib glücklicherweise lochfrei. Glück gehabt.

 

Und dann, dann kam ich doch irgendwann an. Traf auf meine Ausbilderin und ab ging es ins Auto. Weg. Eine Mitbewerberin sprang gleich wieder ab. Mir kam ein ähnlicher Gedanke, aber ich beschloss, erst nach dem Arbeitstag endgültig zu urteilen. Also fuhr ich mit und landete in einem der eher problematischen Stadtteile meiner Nachbarstadt. Dort stolperte ich gemeinsam mit meiner Ausbilderin den lieben lange, wirklich langen, Tag lang von Haustür zu Haustür und sah ihr dabei zu, wie sie die Bewohner zu einem Tarifwechsel in ihrem Vertrag mit dem Telekommunikationsunternehmen zu überreden versuchte.

 

Noch ein Wort zum Business-Look: Sneakers oder so manch ein flacher Schuh passt da natürlich nicht so wirklich. Dementsprechend hatte ich auch mein Schuhwerk gewählt. Eine Fehlentscheidung. Ein achtstündiger Spaziergang ist nicht so eine wirklich gute Idee, wenn die Heels an den Schuhen doch vergleichsweise high sind.  Meine armen Füße waren am Ende des Tages so was von tot. Wenigstens würde ich mir die Kosten für den Sport in Zukunft sparen können, wenn ich den Job bekommen sollte, schoss es mir zwischendrin galgenhumorig durch den Kopf.

 

Ja, die Freuden der Jobsuche. Für mich war aus der Jobanzeige und dem Internetauftritt der Firma nicht ersichtlich, auf was ich mich da einlasse. Auch letzte Woche im Vorstellungsgespräch wurde mit keinem Wort erwähnt, dass ein Arbeitstag so aussieht. Ich ging wirklich davon aus, meine Tage in einem Großraumbüro zu verbringen, so ich denn den Job antreten könnte.

 

Nun, in großem Raum war ich ja tatsächlich unterwegs…

 

Nie im Leben wäre ich vorher auf die Idee gekommen, dass es a)um eine Tätigkeit als „Mitarbeiter im Feld“ geht und b) diese „Mitarbeiter im Feld“ in Drücker-Kolonnen zu mindestens ähnelnden Arbeitsverhältnissen tätig sind.

 

Es gab nichts, was darauf hingedeutet hätte. Großunternehmen, 3000 Mitarbeiter europaweit: Das sind Schlagworte, von denen man sich gerne locken lässt ebenso wie davon, dass weitere Großunternehmen mit einem mehr oder weniger seriösen Image als Kunden genannt werden.

 

Gestern recherchierte ich noch ein wenig. Der Internetauftritt der eigentlichen Firma, die hinter dem Scheiß steht, lässt auch nicht annähernd das vermuten, was einen erwartet. Das Büro des Inhabers, der Internetauftritt der Mutterfirma, sie vermitteln alle den Eindruck jung, dynamisch, erfolgreich. Typisches BWL-Image. Aber im Nachhinein vielleicht doch ein wenig zu geleckt, zu steril.

 

Vermutlich hätte man schon misstrauisch werden müssen, als man von zwei unterschiedlichen Firmennamen ausgehen musste. Der Name, der in der Anzeige genannt wurde, der auf der Türklingel stand und mit dem man sich auch am Telefon meldet, entspricht nicht dem Namen, der im Internetauftritt genannt wird und der als Briefkopf im Schriftverkehr auftaucht. Dass dahinter eigentlich noch eine dritte Firma mit einem dritten Namen steht, weiß ich erst seit gestern.

 

Eine höchst seriöse Sache also. Und das ist sie tatsächlich, trauriger Weise. Oder nein, nicht unbedingt seriös, aber zu mindestens rechtlich bewegt man sich dort auf sicherem Boden, in der Hinsicht ist alles einwandfrei.

 

Ich bin schockiert. Ganz im Ernst. Die Mitarbeiter, die ich am Dienstag kennenlernte hatten alle Migrationshintergrund und stammten aus den eher bildungsferneren Gesellschaftsschichten. Ob sie wirklich so durchblicken, was sie da eigentlich tun, zweifle ich bei manchem von ihnen doch an. Darüber hinaus haben sie sich eine gewisse Skrupellosigkeit antrainieren müssen. Anders überlebt man dort wahrscheinlich nicht.

 

Meine „Ausbilderin“ hat wohl schätzungsweise nicht viel mehr als einen Hauptschulabschluss vorzuweisen. Dafür ist sie aber doch recht unerschrocken und penetrant. Man versteht ihre Ausführungen zwar nicht immer, weil sie sich oft unklar ausdrückt, aber sie bleibt dran, am Kunden, wie ein Hund, der sich irgendwo festgebissen hat. Nach dem Besuch einer alten Dame fluchte sie. Denn die Dame war leider über 80 und somit durfte sie bei ihr keinen „Auftrag schreiben“, sonst hätte sie den locker in der Tasche gehabt, schwärmte sie. Und die arme, alte Dame wusste nicht so wirklich, wie ihr geschieht, wie wir in die Wohnung kamen und was wir von ihr wollten. Sie hätte am Ende wohl tatsächlich unterschrieben ohne zu wissen, was sie da tut.

 

Ein einziger Mitarbeiter war mir wirklich sympathisch, er schien auch etwas mehr Substanz zu haben. Ein studierter Architekt, der leider so schlecht abgeschlossen hat, dass er in seinem eigentlichen Job nichts gefunden hat und inzwischen zu lange raus aus ist, um noch auf dem Laufenden zu sein. Aber er hatte wenigstens ein schlechtes Gewissen, eine Dame zum „Schreiben eines Auftrags“ zu bewegen, als diese ihm unter Tränen erzählte, dass ihr Sohn im Alter von 41 Jahren vor kurzem gestorben war.

 

Nee, echt, so ein beschissener Job, anders kann man es gar nicht sagen. Bestimmt die Hälfte der Türen, an denen wir am Dienstag klingelten, wurden von Rentnern geöffnet. Und trotz der noblen Anordnung, Mitarbeiter dürfen mit Leuten über 80 keine „Aufträge schreiben“, ist das dennoch mehr als fragwürdig. Es gibt auch genug Leute, die im Alter zwischen 70 und 80 nicht mehr ganz klar im Kopf sind.

 

Außerdem waren wir am Dienstag wie gesagt in einem Problemviertel unterwegs, die andere Hälfte der Leute, die wir antrafen, waren die Sozialschwachen, mit und ohne Migrationshintergrund, ebenfalls deutlich bildungsfern. Angeblich war die Wahl des Viertels nicht repräsentativ, angeblich ist man in der ganzen Stadt unterwegs. Man weiß es nicht. Am Dienstag war dort jedenfalls nicht wirklich viel zu holen.

 

Ich dagegen war entsetzt über das viele Elend, was ich gesehen habe. Ich kenne das  Viertel eigentlich nur durch den Blick vom Zug aus und durch die Leute, die an den entsprechenden Haltestellen ein und aussteigen. Und da habe ich eher ein mulmiges Gefühl. Aber hautnah habe ich das noch nie erlebt. So viel Dreck und Müll und Schrott schon an der Haustür. Allzu oft ist das kein Wohnen mehr, nur noch Hausen. Ungepflegte, heruntergekommene Menschen im Innern der Wohnungshöhlen. Nicht wenige davon sprechen sicherlich dem Alkohol zu. Gemöder unterster Schublade. Aber auf so traurige, erschütternde Art und Weise vermödert, dass es einen zutiefst betroffen macht und man eigentlich nur noch Mitleid haben kann.  

 

Unterm Strich ist das also ein Job, den man nicht wirklich machen möchte. Da stellt sich natürlich die Frage, warum ich trotzdem bis zu meinem Abschlussgespräch am Abend durchhielt. Ich hätte auch jederzeit gehen können, zwischendrin. Wahrscheinlich hätte ich das tun sollen. Aber ich war neugierig auf meine Abschlussbeurteilung. Darauf, ob man mir das wohl zutraut. Außerdem spielte ich kurz mit dem Gedanken, möglicherweise erst einmal übergansweise dort anzufangen, um erst einmal irgendwo unterzukommen.

 

Natürlich kann ich dort anfangen. Es wäre ein Witz, wenn eine andere Antwort gekommen wäre. Die „Ausbilderin“, die das letzte Wort hatte, war sicherlich auch scharf auf mein Auto (irgendwie muss man schließlich erst einmal in sein Einsatzgebiet kommen und Fahrtkosten werden vom Arbeitgeber nicht übernommen)und ich gehe mal stark davon aus, dass man auch einen finanziellen Bonus bekommt, wenn man einen Anfänger betreut. Das Unternehmen befindet sich noch im Aufbau, aber es scheint eine hohe Fluktuation zu herrschen. Alles andere wäre auch ein Wunder. Viele von denen, die sich darauf einlassen, werden wohl doch irgendwann die Schnauze voll haben. Oder nicht die passenden Zahlen vorweisen können. Das Gehalt setzt sich angeblich aus Mindestgehalt plus Provision zusammen, aber am Anfang sollte man im Durchschnitt doch so zwei Aufträge pro Tag schreiben können, sagte der Inhaber. Je mehr, desto besser. Versteht sich. Ob etwas passiert, wenn man diese Zahlen nicht bringt, wurde nicht gesagt. Vorstellbar ist das.

 

Alles in allem ist das schon eine ganz schöne Schweinebande. Das fängt schon bei dem Telekommunikationsunternehmen an, das den Auftrag vergibt. Die sind natürlich fein raus, denn man arbeitet nicht für sie, sondern im Auftrag von ihnen. Im Zweifel kann man sich also wunderbar von dem distanzieren, was da an der Haustüre abgelaufen ist. Da ist man doch froh, nicht Kunde dort zu sein. Unternehmen, die sich solch halbseidener Methoden bedienen, vertraut man dann doch nicht mehr so uneingeschränkt. Dumm nur, dass so ziemlich jedes deutsche Telekommunikationsunternehmen sowie diverse Banken, Strom- und Fernsehanbieter Kunden der Firma mit den mindestens drei verschiedenen Firmennamen sind. Solche Methoden scheinen also wohl durchaus zum Tagesgeschäft zu gehören. Und oben in den Führungsetagen sitzen sie dann alle in ihren hochfeinen, sauteuren Zwirnen, Stock im Arsch und freuen sich des Lebens in ihrer kleinen,heilen Welt mit Firmenwägen und stattlichen Jahresgehältern und so weiter und so fort.

 

Jetzt bleibt für mich nur noch eine Frage: Sage ich den Arbeitsbeginn für Montag ab oder gehe ich einfach nicht hin. Ja, ich habe erst einmal zugesagt. Mündlich. Ohne irgendwo irgendwas unterschrieben zu haben. Um noch einmal darüber schlafen zu können. Aber die Gründe, nicht für diese Leute zu arbeiten, wurden seit Dienstag nicht weniger sondern sehr viel mehr. Es kommen immer neue hinzu. Mein Dad meint, ich solle einfach zu Hause bleiben, gar nicht absagen. Faires Verhalten hätten die gar nicht verdient.

 

Stimmt, wirklich fair verhält man sich dort auch nicht, indem man so ein Saubermannimage kultiviert und sämtliche Sachverhalte so wunderbar euphemistisch auszudrücken versteht. Denn offiziell gehen die „Mitarbeiter im Feld“ gar keiner Verkaufstätigkeit nach, sie „schreiben“ lediglich „Aufträge“ und betreuen natürlich nur die reinen Bestandskunden.

 

Ich selber habe allerdings doch ein wenig Skrupel, einfach gar nicht zu erscheinen. Das bin ich einfach nicht. Zumal es ja auch eigentlich kein Problem ist, morgen mal kurz durchzuklingeln und mitzuteilen, dass man doch nicht für sie arbeiten möchte.

 

Schauen wir mal. Und irgendwann, da kommt er dann auch, der Tag, an dem man wirklich uneingeschränkt über sich und das Erlebte lachen kann. Im Moment habe ich das Gefühl, doch irgendwie in der Tiefe meines Herzens ein gutgläubiges, naives, weltfremdes Schaf zu sein. Hätte man das alles vorher durchschauen können? Ich weiß es nicht. Ich bin immer noch fest davon überzeugt, dass es nichts gab, was darauf hingedeutet hätte, dass mich so etwas erwartet. Aber wahrscheinlich bin ich am Ende zu mindestens eines: Hereingefallen auf äußerst gerissene Blender. Nun ja. Vielleicht muss man in seinem Leben auch so etwas einmal erlebt haben. Eine Erfahrung war es jedenfalls definitiv.

Kommentare

00:59 02.04.2011
ach du meine güte. haustürgeschäfte sind echt fürn arsch.
Soll der Kommentar wirklich gelöscht werden?
Löschen | Abbrechen

Kommentieren


Nur für registrierte User.

c. Offline

Mitglied seit: 05.06.2010
DE mehr...
Wirklich beenden?
Ja | Nein

2011-03-31 13:33