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Tagebuch c.
2010-10-27 20:46
Lähmende Ängste
Ich hasse es, wenn er mal wieder das Arschloch heraushängen lässt. Ich hasse es so sehr. Als wäre ich sein Eigentum. Als könne er tatsächlich über mich bestimmen.

Und ja, verdammt, ich weiß, er kann. Weil ich es immer noch nicht schaffe, ihn in seine Schranken zu weisen. Ihm seine Grenzen aufzuzeigen.

Auf der einen Seite rege ich mich wahnsinnig über ihn auf. Auf der anderen Seite unternehme ich nichts, um ihn aufzuhalten. Ich lasse ihn einfach machen. Lasse mich kränken, verletzten und nicke es ab, bejahe, bin brav.

Wie immer

Meine Ma ist seit heute für ein paar Tage weg. Klassenfahrt. Eben rief sie an, weil sie meinen Dad nicht erreichte und sich wunderte, dass er um sieben Uhr am Abend nicht zu Hause ist. Unausgesprochen stand natürlich die gewisse Vermutung aller Vermutungen im Raum. Hat er die „sturmfreie Bude“ wohl genutzt, um seine klein Affäre doch noch mal für ein kleines Stelldichein aufleben zu lassen. Aber….so blöd ist er ja auch nicht. Er kann sich ja denken, dass es Fragen aufwirft, wenn er zu seltsamen Zeiten nicht zu Hause erreichbar ist.

Na, wie auch immer, es hat sich dann geklärt. Eben habe ich noch mal angerufen und ihn erreicht. Er war einkaufen, weil der Handwerker wegen Komplikationen heute bis fast sechs da war.

Und was passierte dann?

Er bestellte mir Grüße von einer Bekannten, die fragte, was ich denn nach dem Studium mache.

Nicht mein Lieblingsthema. Wenn ich nur daran denke, werde ich starr vor Angst, weswegen ich es auch meistens so weit wie möglich von mir schiebe. Der Gedanke, dass ich, mit meiner Fächerkombination und ich, als Person und mit meinem Äußeren, eh keinen Job finden werde, ist mir in den letzten sieben Jahren so gründlich eingeimpft worden, dass ich inzwischen selbst daran glaube.

Ich bin mir sicher, dass ich eh nichts finde und mag es gar nicht versuchen, um nicht genau die ganzen Vorurteile, seine Vorurteile zu bestätigen.

Was widersinnig ist, weil ich ihn ja schon durch mein Nicht-Handeln irgendwie bestätige.

Na ja, jedenfalls gehe ich selber felsenfest davon aus, dass ich eh keinen Job finden werde und hab ne Heidenangst vor dem Tag, an dem sich all meine Befürchtungen bestätigen.

Aber dann gibt es Momente, die mir Mut machen. Denn es ist nun mal so, dass es mit einem rein geisteswissenschaftlichen Studium schwierig ist, etwas zu finden. Sagen wir rund 70% unserer Absolventen flüchten sich erst einmal in die Doktorarbeit. Da ist man dann wenigstens erst einmal wieder beschäftigt. Eine Freundin von mir ist vor einem Jahr fertig geworden. Manch einem ist sie vielleicht noch unter dem Namen „kleine Süße“ bekannt. An ihrem Aussehen liegt es also nicht, dass sie noch nichts gefunden hat. Denn sie schlägt sich seit einem Jahr mit unbezahlten Praktika durch. Hat einen Intensivkurs in BWL gemacht. Hatte vor, mit einem Bildungsgutschein in diesem Herbst die Zeit zu überbrücken. Das hat sie nun abgeblasen, weil sie nicht mehrere Monate in dieser Jahreszeit alleine in Norddeutschland sein wollte.

Im Grunde hat sie also immer etwas gemacht in dem letzten Jahr. Dinge, die dem Lebenslauf sicher gut tun. Aber auch Dinge, die sie in Sachen Job noch nicht weiter gebracht haben.

Ihre Geschichte wollte ich eben meinem Dad erzählen. Sinn und Zweck des Ganzen: Hervorheben, dass es schwer ist und dass es auch anderen und nicht nur mir schwer fällt, irgendwo unter zu kommen.

Er hat mich nicht mal ausreden lassen. Kaum hatte ich das Wort „Bildungsgutschein“ in den Mund genommen, hat er mich schon platt gebügelt.

„Das kommt gar nicht in Frage. Jetzt nicht noch ne Ausbildung und noch ne Weiterbildung und noch ein Praktikum. Jetzt verdienst du richtiges Geld und wenn du dich an die Supermarktkasse setzt. Alles andere kommt gar nicht in Frage. Du kannst ja nicht dein Leben lang in Ausbildung sein.“

Ein winziger Teil in mir will protestieren. Es ist nicht seine Entscheidung, wie mein Leben weiter geht. Natürlich ist das nicht seine Entscheidung. Und wenn ich mich mit Praktika und der gleichen weiterbilden will, sollte das mein gutes Recht sein. Denn auch wenn ich das Thema Job und Arbeitsmarkt vor lauter Angst gerne weit, weit von mir wegschiebe, ist auch mir bewusst, dass durchaus einige Menschen in solchen Weiterbildungsmaßnahmen untergebracht werden und somit aus der offiziellen Arbeitslosenstatistik erst einmal raus sind.

Ich meine, ich bin 28. Die Ansage: „Du arbeitest jetzt demnächst dann gefälligst und wenn du an einer Supermarktkasse sitzt“, ist da wohl wirklich nicht angebracht. Eigentlich. Er ist nicht in der Position, solche Ansagen zu machen. Eigentlich. Er ist nicht in der Position, über mein Leben zu bestimmen. Eigentlich.

Es regt mich wahnsinnig auf. Diese Dreistigkeit. Und ich ärgere mich über mich selbst, weil es mich so hilflos macht. Weil ich es nicht ändern kann. Weil ich ihm die Stirn nicht bieten kann. Weil ich mich nicht wehren kann. Weil ich immer und immer und immer nur stumm abnicke und mir alles gefallen lasse.

Ich weiß einfach nicht, wie ich mich von ihm befreien soll. Er ist mein Problem. Er ist wirklich das Kernproblem. Alle meine Probleme drehen sich um ihn, hängen in irgendeiner Form mit ihm zusammen und mit der Art und Weise, wie er mich seit 28 Jahren behandelt. Wäre er raus aus meinem Leben, würde sich wahrscheinlich vieles von selbst regeln. Er hält mich gefangen. Ich fühle mich regelrecht in mir eingesperrt, gefesselt. Der Gedanke an ein Leben ohne ihn verspricht süße, wunderbare Freiheit, Befreiung. Er erdrückt mich.

Und ich habe Angst davor, mich zu wehren. Ich habe Angst davor, mich von ihm zu befreien.

Es ist….Mein Körper, mein Gewicht ist mein Leben lang Thema, das ist nichts Neues. Aktuell befinde ich mich mal wieder in einer Art Projekt. Dieses Mal ist es Ernährungsberatung. Mehr oder weniger von ihm angeregt, angeleiert. Ich meine, ich finde es nicht schlecht, lerne selbst einiges, das interessant ist. Aber es ist nicht zu 100% meins.

Die Ernährungsberaterin ist extrem nett. Ihr gegenüber bin ich auch gnadenlos offen. Und sie sähe es eigentlich sehr gerne, wenn mein Vater einmal mit zu einem Termin kommt. Um ihn in seine Schranken zu weisen. Um ihm klar zu machen, dass er mit seiner Dauerkontrolle mehr Schaden anrichtet als Gutes tut. Eigentlich wäre das perfekt. Eine neutrale, außenstehende Person vom Fach, die ihm mal die Augen öffnet. Und trotzdem will ich das nicht. Es macht mir Angst. Denn mein Vater ist das, was er mir immer vorwirft: Beratungsresistent. Er lässt sich nichts sagen. Er lässt sich nicht von seiner Meinung abbringen. Erst recht nicht von einer Frau. Meine Therapeutin versuchte es ja damals auch. Die ist ja in seinen Augen sowieso eine der unfähigsten Personen überhaupt. Nein, es bringt gar nichts, wenn ihm irgendwer anderes etwas sagt. Das macht es im Zweifel nur schlimmer. Am Ende bin ich die Böse, die eh nur scheiße erzählt und zu faul ist, endlich einsichtig zu werden und zu stur ist, ihr Leben so zu führen, wie es sich gehört.

Ich fürchte, es würden nur radikale Mittel helfen. Kompletter Kontaktabbruch. Er muss raus aus meinem Leben, damit ich nicht völlig vor die Hunde gehe. Sein Einfluss, auch wenn er noch so gut gemeint sein mag, war eigentlich immer nur schädlich. Ich habe diverse Macken und Ängste und das im Grunde hauptsächlich deshalb, weil er mir immer nur meine (vermeintlichen) Schwächen vorgebetet hat. An guten Tagen. An schlechten Tagen kamen dann die Tiraden, in denen man mir erzählte, wie wenig ich wert bin.

Es ist…es ist nicht angemessen, ihn weiterhin über mein Leben bestimmen zu lassen. Aber er wird es von alleine nicht sein lassen. Er ist einfach so. Er kann einfach nicht loslassen. Er wird immer entscheiden wollen.

Dabei sollte es eigentlich alleine meine Entscheidung sein, ob ich bis zu meinem Lebensende in Praktika und Weiterbildungen versumpfe oder stumpfsinnig an der Supermarktkasse hocke oder meine Körper verkaufe oder was auch immer.

Aber ich kann es nicht, ich kann das einfach nicht. Die radikalen Schritte gehen…Meine Ma, der Hund….sie halten mich. Ich hänge an ihnen allen beiden so sehr. An dem Hund sowieso und für meine Ma fühle ich mich verantwortlich. Auch ein Überbleibsel aus den letzten 28 Jahren, denn sie hat mich zu ihrer Verbündeten in den Problemen mit ihrem Mann gemacht. Mit der Tochter die Eheprobleme und die Verletzungen aus dem Betrug zu diskutieren ist auch nicht das, was man so normalerweise machen sollte. Ist auf manche Art und Weise sicher genauso schädlich. Aber es belastet mich nicht so sehr wie mein Dad. Ich habe einfach Angst, sie alleine zu lassen, sie im Stich zu lassen, ihr weh zu tun, wenn ich auf absolute Kontaktsperre beharre. Dabei ist sie eine erwachsene Frau und selbst für sich verantwortlich. Eigentlich. Ja, auf eine andere Art und Weise belastet mich dieses Verantwortungsgefühl für meine Ma sicher genauso wie die Kontrolle meines Dads.

Am gesündesten für mich wäre es wohl, wenn ich mir mein Leben ganz alleine und völlig ohne sie aufbauen könnte. Aber so wirklich, wirklich völlig alleine. Und wirklich ohne Kontakt. Denn ich weiß, wie sehr mich da Kleinigkeiten wieder zurückwerfen würden. Und…ohne Rapport über Erfolge wäre es ja auch kaum machbar. Im Guten.

Natürlich darf es sie interessieren, was mit mir ist. Aber sie sehen es als ihr Recht. Und fordern es ein. Es ist nicht nur liebevolles, elterliches Interesse. Besonders nicht von ihm. Von ihm schwingen da zu viel Leistungsdruck und Erwartungen mit. Er vermittelt immer das Gefühl, nicht versagen zu dürfen, nur Erfolge liefern zu dürfen.

Nein, eigentlich müssten sie beide erst einmal raus aus meinem Leben, damit das mit mir irgendwann noch mal was wird. Aber das geht nicht. Das kann ich nicht. Ich habe so eine Angst davor, ihnen weh zu tun, wenn ich mir einmal im Leben mit einer Art gesundem Egoismus mein Leben zurückerobere. Ich lebe nicht mein Leben. Ich stelle mich ihnen zur Verfügung. Zur Verfügung zur Bedürfnisbefriedigung. Damit mein Vater bestimmen kann, damit meine Ma eine Verbündete hat. Am Ende ist wahrscheinlich niemand glücklich.

Klar, vielleicht gäbe es auch noch andere Lösungen als die radikale. Da müsste aber auf der Gegenseite erst einmal die Einsicht kommen, dass nicht ich das Problem bin. Dass es nicht alleine an mir ist, das Problem zu lösen. Dass sie alle beide genauso dazu beigetragen haben. Dass sie auch daran arbeiten müssen. Mit therapeutischer Hilfe. Aber das wird nie passieren.

Alle beide halten im Grunde nichts von Therapie und schließen diese Maßnahme für sich kategorisch aus. Der Tag, an dem mein Dad freiwillig die Praxis eines Psychotherapeuten besucht, ist der Tag, an dem die Hölle gefriert. Das ist einfach ein Ding der Unmöglichkeit.

Ich weiß, dass ich in diesem Beziehungsgeflecht nie glücklich und auch nie wirklich selbstständig werden kann. Ich weiß, dass ich da heraus muss, wenn ich mir noch was wert bin, wenn mir mein Leben noch was wert ist.

Aber ich habe Angst.

Weil…würde ich diesen Schritt wirklich gehen, wäre ich ganz alleine. Wirklich alleine.

Ich hab sonst niemanden.

Adoptivkind.

Keine Geschwister.

Keine Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen.

Keine Großeltern mehr.

Keine Beziehung.

Freundschaften, die im Grunde auch von heute auf morgen abbrechen können.

Ohne meine Eltern wäre ich wirklich völlig alleine.

Das macht mir Angst.

Wahrscheinlich lasse ich mir deswegen alles gefallen.

Wahrscheinlich lebe ich deswegen nicht mein Leben.

Wahrscheinlich lasse ich sie deswegen über mich verfügen.

Wahrscheinlich mache ich deswegen alle unglücklich.

Sie.

Mich.

Und jeden anderen sonst, der für einen Moment versucht, eine Rolle in meinem Leben zu spielen.

Gut, vielleicht habe ich diese Leute nicht unbedingt unglücklich gemacht. Aber sie haben zu mindestens alle miteinander noch irgendwann genervt das Handtuch geworfen. Ist ja auch verständlich. Wirklich attraktiv ist das ja tatsächlich nicht, dieses ganze, wirre Problemgeflecht. Wer bindet sich das schon freiwillig ans Bein?

Kommentare

08:46 28.10.2010
Oh, der Kommentar wurde letzte Nacht wohl etwas lang. Kannst ihn ja löschen.
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00:22 28.10.2010
Na super, weisst Du an wen mich Deine Geschichte erinnert: an mich!
Ich war 18, ich konnte es zu Hause nicht mehr aushalten. Die Kälte. Ich hatte 2 Geschwister und war doch alleine. Ich weiss wie das ist, man ist in einer Familie und ungeliebt. Wer zu Hölle soll mich je lieben, wenn es nicht einmal die eigene Familie kann ?!!

Doch ich habe es geschafft.

Meine Mutter hatte Atritis und ich musste den Haushalt führen. Ich konnte sie doch nicht im Stich lassen. Und wenn ich in meinem Zimmer war, konnte mich niemand angreifen, dann bin ich doch glücklich, habe ich mir jahrelang eingeredet. DOCH SO IST ES NICHT !!

Du bist nicht verantwortlich für Deine Eltern. Sie haben entschieden Dich zu sich zu nehmen, Du hast nicht gefragt, ob Du zu Ihnen kommen darfst. SIE schulden Dir alles, DU schuldest ihnen nichts.

Ich hatte 2 Schlüsselerlebnisse, die mir den Weg gezeigt haben.
1. ich war so nervös, dass ich in 3 Wochen 7 Kilo zugenommen haben
2. ich hatte plötzlich dieses Gefühl "ich HASSE meine Mutter"
Das war für mich ein Signal. Ich bin nicht für meine Mutter verantwortlich, aber ich darf sie nicht hassen, ich muss etwas tun und so bin ich ausgezogen. Ich war schon in der Lehre und meine Eltern mussten mir noch ein Jahr die Miete bezahlen, aber nach der Lehre gab es keinen Cent mehr und ich musste auf eigenen Beinen stehen.

Bevor Du von Deinem Vater loskommst, musst Du selbstständig werden. Du musst Dein eigenes Geld verdienen, egal wie. Dann ziehst Du am besten 500km weit weg, das dürfte ja in Deutschland kein Problem sein, und dann meldest Du Dich bei Deinen Eltern erst wieder, wenn Du es geschafft hast. Und wenn es ein Jahr dauert, egal, Du wirst es schaffen, wenn Du es wirklich willst.

Sorge Dich nicht um Freunde, die kommen von alleine, wenn Du den Druck und die Minderwertigkeitsgefühle los geworden bist. Bei mir war das so. Kaum war ich von zu Hause weg, lernte ich einen netten Mann kennen, meinen ersten Freund und ich wurde eingeladen, habe mir einen Freundeskreis aufbauen können. Wenn der Druck weg ist, wird vieles leichter. Das allerschwerste ist der Schritt: WEG IN DIE EIGENSTÄNDIGKEIT !!

Du bist 28, eine erwachsene Frau. Verstecke Dich nicht hinter Ausflüchten. Lebe Dein Leben, nicht das Deiner Eltern. Wenn Deine Mutter ohne Dich nichts auf die Reihe bekommt, ist das ihr Problem.

Es ist verdammt hart, aber es lohnt sich. Hau ab.

Ich bin bei Dir und drück Dir die Daumen.
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2010-10-27 20:46