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Tagebuch atropos
2005-03-31 19:12
voodookinder
versucht nicht, uns zu verstehen. ihr könnt uns untersuchen, befragen, interviewen, statistiken über uns aufstellen, sie auswerten, interpretieren, verwerfen, theorien entwicklen und diskutieren, vermutungen anstellen, schlüsse ziehen, sachverhalte klären, ergebnisse verkünden, sogar daran glauben. unseretwegen. aber ihr werdet uns nicht verstehen. wir sind anders als ihr. wir kopieren eure moden und utopien, wir haben von euch gelernt, wie man sich durchwindet, durchfrißt, wir sind alle kleine schmarotzer in euren häusern, behütet durch dicke polster aus wohlstand, die angelegt wurden, damit wir es einmal besser haben sollten. wir nehmen eure wohnungen und euren besitz in anspruch, warum sollten wir nicht noch mehr wollen, wenn wir schon alles haben, unsere ansprüche sind groß und selbstverständlich und einer konsumgesellschaft angemessen. wir nutzen eure welt, aber wir verweigern das nacheifern, wir funktionieren anders, wir sind konstruiert, sozialisiert, domestiziert, angeschmiert. früher war alles anders und deshalb kann man uns nicht mit früher vergleichen. unsere jugend ist anders als eure war. wir sind anders als ihr. wir sind zu viele, zu verschieden, zu zersplittert, zu schillernd, zu gegensätzlich, zu unlogisch und zu abgeschottet und zu sektiererisch, als daß es ein großes, umfassendes wir geben könnte. wir benutzen es trotzdem. wir, das wechselt. ein wir kann aus verschiedenen gruppen bestehen, die sich normalerweise nur abschätzig mißachten würden. ein haufen von autonomen und normalos zum beispiel wird zum wir durch die konfontation mit einem anderen wir, das uns in einen topf schmeißt, der die aufschrift "ihr" trägt. wir hier drinnen, ihr hier draußen, wir hier unten und ihr da oben. unsere demokratie läuft schief. die demokratie, die wir leben, wurde uns in der schule vermittelt, wo sie immer nur als argument gegen unsere interessen herhalten mußte. wir lernen in der schule viel mehr, als im lehrplan steht und die statistik des ständig sinkenden bildungsniveaus glauben machen will. wir lernen die heute übliche form des zusammenlebens. der erziehungsauftrag an uns wird zwischen eltern ohne zeit und überforderten lehrern hin- und hergeschoben, wir gewinnen freiraum in diesem chaos und der gefällt uns. wir verwildern in diesem vakuum, dessen ränder aus watte sind und dessen grenzen wir selbst setzen. daß es auch noch andere grenzen gibt, merken wir erst wieder, wenn vor uns das brennende haus steht, das wir angezündet haben, und hinter uns drei polizisten, die ordentlich fest zupacken. der genuß ist uns ein hoher wert. ständig werden wir aufgefordert, am rendez-vous der sinne teilzunehmen, den gipfel der genüsse zu erklimmen, duschgels provozieren frauen und jede pizza nennt sich gourmet. wen wundert da noch unser verkrampftes hinterher rennen hinter der lust, unsere genußsucht, die tendenz zur immer schnelleren abstumpfung und immer höheren stimulierung? wir wollen alle hedonisten sein, doch unsere genüsse sind irgendwie schal, wie eingehüllt in kalten zigarettenrauch. aber komischerweise freuen wir uns auch über eine umarmung, die gefundenen fünfzig pfennige, eine einladung zum kaffeetrinken oder darüber, daß die sonne scheint. wo irren sich die konsumtheoretiker? wir sind unfaßbar, das ist unser geheimnis. unsere welt gleicht der der haitanischen vodooisten. wir sind losgelöst, unseren wurzeln entfremdet, entfernt wie die karibik von afrika. die beliebigkeit regiert, wir sind spielbälle des zufalls, der zufall bestimmt, was wir denken und meinen wollen. wir sind glücklich, trotz der sinneslehre, warum sich das leben unnötig schwer machen? wir sind unausgeglichen, krank, haben einen an der klatsche, haben pickel, übergewicht oder bulimie. es gab generationen, die wollten schnell erwachsen werden, und andere hofften, zu sterben, bevor sie alt würden. wir wollten ewig leben und bleiben, wie wir sind. wir flirten mit allen und tun nichts so intensiv, daß es uns weiter brächte. wozu auch? warum etwas ändern, wenn es auch so geht? wir fordern unsere rechte als mündige bürger und wundern uns, wenn uns jemand ernst nimmt. wir sind das produkt unserer zeit. wir sind eine protestgeneration, wir verweigern nicht mehr den konsum, wir verweigern eure werte. wir sind manisch und depressiv, wir glauben, daß uns die welt gehört, und uns bedrückt der gedanke, daß wir in einigen ahren die verantwortung für dieses ungeheuer komplizierte system menschheit übernehmen müssen. wir müssen dann güterwagen bauen können, kriege führen, schwimmbäder sanieren, klos putzen, weizen anbauen, bier brauen, gemälde restaurieren, rollmöpse entwickeln, gallenblasen entfernen, besetzte häuser räumen, haschisch verschieben und die verluste der telekom berechnen. irgendjemand von uns muß das mal machen, diese aufgaben übernehmen, so wie das jetzt jemand von euch macht. wir haben es einfach wie kaum jemand und werden davon überfordert. wir wollen behütet sein und frei. wir sind hemmungslos verklemmt, unglaublich, weltoffen, schön, intelligent, unrealistisch und faul. wir sind reizend, häßlich, und wir sind jung. wir sind die vodookinder...

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2005-03-31 19:12