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2020-04-28 hh:mm Geheimnis
Verrat einer "Freundin"

Während ich aufwuchs war ich immer eine leichte Zielscheibe für gemeine Kinder, die ihren Frust an mir auslassen, oder ihre Überheblichkeit ausdrücken wollten.

Da ich im Kindergartenalter über einen langen Zeitraum Medikamente gegen eine Lungenentzündung genommen hatte, die meinen Stoffwechsel herabsetzten, war ich dicker als die anderen Gleichaltrigen. Durch das Zusatzgewicht hatte ich weniger Spaß an Bewegung, was wiederum dazu führte, dass ich das Gewicht nicht verlor.
Ein Teufelskreis.  

Als herauskam, dass die Ursache ein undichtes Kinderzimmer war, zogen wir vom Hafen nach Unterbilk. Ich war damals ungefähr 6.

Franziska B. wohnte nur ein paar Straßen weiter, weshalb wir morgens die gleiche Bahn zu unserer Grundschule nahmen. Ihre Mutter war alleinerziehend und arbeitete in einem Café, das aber überwiegend von Biertrinkern besucht wurde.

Ab dem vierten Schuljahr wurde ich in die gleiche Klasse versetzt, damit ich den gleichen Stundenplan habe, wie alle anderen, die in meiner Gegend wohnten. Das geschah damals als Sicherheitsvorkehrung, nachdem ich von einem Pädophilen in eine Garage gelockt worden war.

Ich weiß nicht mehr, wann genau es anfing - vielleicht als ich in ihr Territorium eindrang, vielleicht auch schon früher und ich hatte es bisher nicht bemerkt - jedoch spürte ich nun deutlich, dass auch Franziska auf mich hinab hackte.
Sie mochte es generell, mich zu dominieren, weil ich ihrem Willen leicht nachgab. Trotzdem kam mir unser Verhältnis, wenn wir alleine waren, freundschaftlich vor. Wir gingen zusammen mit ihrem Hund spazieren und spielten auf dem Spielplatz. Nur wenn andere dabei waren, schaute sie auf mich herab.

Wir kamen auf das gleiche Gymnasium. Wie sich herausstellte, war dort die Hackordnung besonders stark. Die Schüler kamen überwiegend aus gehobeneren Familien, welche entsprechende Ansprüche in ihre Kinder setzten. Das Schulsystem war darauf ausgelegt, vor allem in den ersten Jahren zu beurteilen, wer auf ein Gymnasium gehört und wer nicht, weshalb die Lehrer ihre Schüler nicht förderten, sondern aussortierten. Die meisten Lehrer waren stets ernst und verhielten sich streng. Vielleicht mussten sie es sein, um die Übersprungshandlungen ihrer angespannten Schüler unter Kontrolle zu halten. Wie ich hörte, zog sich die Anspannung auch durch die höheren Schuljahre. Nicht selten bekam ich mit, dass auf dem Schulhof mit Drogen gehandelt wurde - Hilfestellungen, um dem Leistungsdruck gerecht zu werden.

Wir waren weiterhin in der selben Klasse. Franziska lernte eine Menge neuer Mädchen kennen, bei denen sie ebenfalls ihre Dominanz austesten konnte. Ihre beste Freundin wurde Isabelle K., welche ihrem körperlichen und geistigen Entwicklungsstand am ähnlichsten war und ihr deswegen als ebenbürdig erschien. Ich selbst wurde nur selten bei den anderen Mädchen geduldet.
Unsere Klassenordnung bestand aus drei Gruppen. Die coolen Mädchen, die coolen Jungs und im Wesentlichen den zwei Außenseiterinnen - Theresa und ich. Theresa war ein ähnliches Schicksal wiederfahren wie mir. Sie war mit Isabelle befreundet, bevor sie durch den Schulwechsel links liegen gelassen wurde.
Wir hatten deswegen am meisten miteinander zutun, auch wenn sie mich jedes Mal, wenn sich die seltene Gelegenheit ergab, lieber mit der Gesellschaft der coolen Mädchen ersetzt hat. Niemand von uns wollte je die Hoffnung aufgeben, eines Tages von den anderen akzeptiert zu werden.

In der 7. Klasse blieb ich sitzen. Ich hatte in Mathe den Anschluss verloren und kam auch bei Latein trotz aller Anstrengungen auf keinen grünen Zweig. Über meine Vorliebe zu Nirvana lernte ich in dieser Klasse ein Mädchen kennen, dem ich wohl auch schon in der Grundschule begegnet war und fand in ihr die erste Freundin, die mich bedingungslos wie einen normalen Menschen behandelte.

Als sich mein 14. Geburtstag näherte, schlug Franziska mir vor, in meiner Wohnung eine Party zu feiern, zu der sie auch noch ein paar Freunde mitbringen könnte. Sie zeigte meiner Mutter eine Liste mit allen Personen, die anwesend sein sollten. Meine Mutter willigte ein, mich diesen Geburtstag allein feiern zu lassen, blieb aber in Reichweite. 

Der Tag meines Geburtstags änderte alles.

Als wir allein waren, trafen wir uns bei Franziskas Wohnung mit Isabelle, Katrin, Lioba und Lea aus unserer Klasse. Sie machten mir Druck und überredeten mich dazu, Kampftrinken mit ihnen zu machen, wobei sich Franziska als meine Opponentin opferte. Die Mädchen kicherten nervös und taten irgendwas hinter der Theke. Vermeintliche Schwierigkeiten, die Flaschen zu öffnen.
Ich bekam eine Flasche Vodka Feige - etwas, was ich seitdem nicht mehr trinken kann. Als es anfing, tranken wir, so schnell wir konnten. Franziska unterbrach sich und prustete einen Schwall Flüssigkeit auf den Boden.
Ich stoppte nicht - und trank die ganze Flasche aus.
Die Mädchen wechselten überraschte Blicke, reagierten mir gegenüber aber anerkennend.
Ich hatte ihr Spiel gewonnen.

Danach fuhren wir zur Haltestelle unserer Schule, um den Rest ihrer Freunde abholen. Ich konnte mich erstaunlich gut auf den Beinen halten. Der Vodka schien nur langsam zu wirken. 
Wir holten einen Jungen und ein, vielleicht auch zwei Mädchen ab. In der Bahn fragte mich das Mädchen: "Hast du Kopfschmerzen? Willst du eine Tablette dagegen?", holte dabei welche aus ihrem Rucksack und hielt sie mir hin. Der Junge intervenierte: "Bist du verrückt? Das ist gefährlich!". Grinsend steckte sie die Tabletten wieder zurück.
Ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht, dass die Kombination von Alkohol und Schmerztabletten tödlich sein konnte. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte sie mich wohlmöglich umgebracht.
Ich war generell nicht geübt im Trinken. Ich hatte Glück, keine Alkoholvergiftung bekommen zu haben.

Um zu mir zu kommen, mussten wir ein Mal umsteigen. Die Haltestelle war nur drei bis vier Bushaltestellen von meiner damaligen Wohnung entfernt, weshalb man von dort aus auch gut zu Fuß nach Hause gehen konnte.
Als wir ausstiegen, stand auf dem großen Kirchplatz eine riesige Menge von Personen, die mit auf meine Party wollten. Ein paar davon kannte ich von unserer Schule, in einen davon war ich verliebt. Ein Schauspieltalent. Er war mir aufgrund seiner langen Haare aufgefallen. Eines Tages waren sie plötzlich um ein ganzes Stück kürzer. Wahrscheinlich waren auch sie dem Anpassungsdruck verfallen. Ich habe ihn immer aus dem Schatten heraus beobachtet. Keiner spielte so überzeugend und uneitel wie er.
Ich freute mich.

Da die Mädchen entweder beunruhigt oder amüsiert über den Ausgang des Kampftrinkens waren, erzählten sie es unter den Leuten rum. Auch hier bekam ich anerkennendes Feedback. 
Als ich mich auf den Weg nach Hause machte, folgte mir die Menge. Ich war durch den Alkoholpegel gefügig und dachte mir nichts Schlimmes dabei.
Cagla, die mittlerweile an meiner Wohnung auf mich gewartet hatte, reagierte allerdings geschockt. Da es mir kurz darauf nicht mehr gut ging, zogen wir uns in mein altes Zimmer zurück, in dem ich mich auf das Hochbett legte. Nachdem sie sich einen Überblick über die Lage in der Wohnung verschafft hatte, rief sie meine Mutter an, welche sofort unter Begleitung ihres damaligen Mannes herüber kam.
Als sie den Zustand der Wohnung sahen - überall Dreck, Dreißigjährige die auf dem Boden sitzend Drogen zu sich nahmen und eine unüberschaubare Menschenmenge, von denen einige vandalierten - riefen sie die Polizei und schlossen die Tür ab.
Beim Klang der Sirenen schafften es jedoch trotzdem alle, durch die Fenster und über die Gartenmauer zu fliehen.
Es waren nur vereinzelt noch Mädchen da, welche meine Mutter schon vor dem Rufen der Polizei gesehen hatte.  

Ich weiß nicht, wie lang die Party gedauert hat, aber es wurde innerhalb kürzester Zeit ein enormer Schaden verursacht. 
Die Wände waren mit meinen Ölfarben beschmiert, das Aquarium mit Essensresten und Zigarettenkippen verdreckt, jemand hatte versucht, eine unserer Hausratten in der Mikrowelle zu töten - weshalb wir sie erst nach langem Suchen vestört in einer Ecke fanden - jemand hatte in meinen PC uriniert. Jegliche meiner CDs, Spielkonsolen und Spiele waren gestohlen, der Inhalt des Kühlschranks auf dem Boden verteilt worden.
Insgesamt berechnete sich der Schaden auf eine Höhe von 20.000 Euro.

Die Polizisten notierten den Zustand der Wohnung und nahmen den Fall auf. Ich konnte mich nur wenig zu all dem äußern. Franziska war bereits zu Hause und äußerte am Telefon, sie hätte geschlafen. Die anderen  schafften es noch, im Bad ihre eigenen Tags wegzuwischen, bevor die Polizei sie aufnehmen konnte.
Meine Mutter war Tage lang sauer auf mich. Als Franziska und Isabelle an einem Tag da waren, um beim Putzen zu helfen - ich schätze, Franziska hat sie mitgeschleift - bekam ich mit, dass Isabelle dabei etwas von "wir müssen es ihr sagen" tuschelte. Franziska war jedoch dagegen.

Der klärende Anruf kam ein paar Tage später von Anna, einem Mädchen im Rollstuhl.
Sie erzählte meiner Mutter, dass Franziska und die anderen die Party über einen längeren Zeitraum geplant hatten.
Sie hatte mitbekommen, wie die Mädchen über den Schulhof gelaufen waren und alle eingeladen hatten. Franziskas Freundin hat dagegen Fremde aus der Altstadt für eine Trümmerparty rekrutiert.
Das Kampftrinken war gezielt dazu vorgesehen, mich so weit aus dem Weg zu schaffen, dass ich mich nicht wehren würde: Den Inhalt von Franziskas Flasche hatten sie vorher mit Wasser vertauscht. Die Anwesenheit der anderen Mädchen war nötig, um gemeinsam den Gruppenzwang zu erzeugen.

Ich wollte den Leuten nicht mehr begegnen.

Kaum jemand entschuldigte sich. Nur Leon, der nicht wollte, dass ich verrate, dass er dort war. Im Vorbeilaufen auch noch andere, scheinheilige Ex-Klassenkameraden.
Und Matthias.
Er hatte meine Telefonnummer ermittelt und erzählte mir, was ich ihm im betrunkenen Zustand offenbart hatte. Er half mir ein bisschen, die Sache zu verarbeiten. Gleichzeitig erfuhr ich, dass er bald in ein anderes Land ziehen würde. Ironisch, wie mir völlig unverhofft der Kontakt gewährt wurde, unmittelbar von seiner Endlichkeit gefolgt. 

Da Franziska die Schuld, sowie alle Schüler ihre Beteiligung abstritten und auch die Schulleitung bei diesem Fall nicht bei den Ermittlungen helfen wollte, wurde die Anklage fallen gelassen. 

Für mich gab es keinen Grund mehr, an dieser Schule zu bleiben. Cagla sah das genauso.
Vielleicht wäre es auch zu gefährlich gewesen.

Ich kann noch immer nicht verstehen, wie jemand einem so etwas nach acht Jahren vermeintlicher Freundschaft antun kann. Wie man darauf kommt, jemanden in so einem Ausmaß zu belügen und zu hintergehen.

Und wie man danach ohne Konsequenzen davon kommt.

 

Ich habe Franziska letztes Jahr auf einem Nachhaltigkeitsfestival wiedergesehen. Ich habe sie sofort erkannt. Da ich mittlerweile nicht mehr dick bin, hat sie wohl eine Weile gebraucht. Sie fragte mich unbefangen, ob ich für den Essensstand anstehe. Ich schaute ihr mit ernstem Blick in die Augen und verneinte erst nach einen paar Sekunden. Kurz darauf war sie weg. Ich schätze, sie hat sich mit einer Ausrede bei ihrem Begleiter entschuldigt.

Mit einer weiteren Lüge.

Kommentare

02:31 14.05.2020
Traurig, wenn der Start ins Leben so verläuft
Aber inzwischen hast Du Dich ja doch "gefangen"?
Soll der Kommentar wirklich gelöscht werden?
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2020-04-28 hh:mm