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Thursday, 25. April 2024
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 1910-08-23 hh:mm
Liebesgefühle und erste Zweifel
Die großen Ferien sind vorüber. Es war sehr schön. Unser neues Haus ist doch zu nett. Alles so bequem. Marta Strucksberg sah ich auch paar Stunden, ich hab aber in dieser kurzen Zeit mehr von ihr gehabt als in 14 Tg. Mit Grete Dienem. Grete ist komisch. Mir kommt sie so affig vor, so eingebildet. Es war mir oft ekelhaft. Vielleicht nehme ich aber die Sache wohl zu äußerlich. Wir sind aber auch tüchtig auseinander gekommen.-
Mariechen Rönnefahrt hat sich nun entgültig mit einem Volksschullehrer verlobt. Sie ist ein komisches Mädel. Ein Pessimist durch u. durch u. scheint jeden Glauben an das Ideale verloren zu haben.-
In den Ferien war Josef Neumayer wieder mal bei uns. Er war nur scheußlich. Herbst geht er nach Berlin auf die Oberfeuerwerkerschule. Ein Theologisches Vergnügen machte ich auch mit. Durch Gerhard Hahn, unsern früheren Pastorensohn, wurden wir eingeladen. Es war sehr nett. Ich hab Gerhard das Tanzen beigebracht. Er ist ein ganz netter Mensch, doch ein furchtbarer Dick- und Hitzkopf.- Pastor Wagner habe ich nicht besucht.—
Jetzt rückt nun auch die Abiturzeit für „Walther“ heran. Sie sitzen jetzt im schriftlichen. Hoffentlich kommt er durch. Es ist doch eine aufregende Zeit. Am 16, 17 u. 18 war Fahnenweihe, 50 jähriges Stiftungsfest der IF (infanterie) Fahnenweihe war großartig. Hab die ganze Zeit neben Walther gestanden. Gesprochen haben wir nicht zusammen. O, ich liebe den Kerl immer mehr. Ich bin oft ganz krank, daß ich ihn nicht näher kennen lernen darf. Freche Menschen sprechen sich auf offener Straße ! Und wir sind so zurückhaltend, daß wir uns nur schweigend mit Blicken unterhalten. O, sie sagen oft soviel.
Am 18.VIII. hat er mich recht betrübt u. mir fast allen Glauben an ihn genommen. Er war zur Stellung als Einjähriger der Artillerie 74 in Torgau, da er nun angenommen wurde, war er natürlich sehr froh. Übermütig wie er oft ist, schrieb er mir von einem Bierschoppen eine anonyme Karte. Sie war etwas sehr anzüglich geworden. Je mehr ich sie las, desto toller fand ich sie. Ich meine, er wollte mich veräppeln. Ich war natürlich eingeschnappt. Er hatte Furcht, war feige u. vielleicht auch Gewissensbisse. Jedenfalls ließ er sich nicht sehen, u. ich mich nicht. Wir treffen uns abends nach 7 Uhr nicht mehr. Erst lief er fort, wenn er mich sah. O, ich war so traurig. Als er mich zum erstenmale wieder grüßte sah er mich so ernst, so nett, so artig u. so traurig an. Es war ein undefinierbarer Blick. Ich war sehr kühl u. sah ihn fast garnicht an u. nachher war er Luft für mich. Abends sage ich ihm vom Fenster aus nicht mehr gute Nacht, geliebter Junge“ u. morgens vom Fenster aus „guten Morgen einziger Geliebter“. Stumm, nur mit einem kritisch, vorwurfsvollen Blick gehe ich an ihm vorüber. Am Sonnt. 21. in der Kirche sprach der Pastor über „So leget nun ab alle Bosheit.“ Daraufhin sah mich Walther mit einem vorwurfsvollen rührenden Blick an, als wollte er sagen, kannst du mir nicht vergeben, es war ja nur eine Tollheit von mir! Auch auf der Platzmusik sah er mich so an. Ach ich hab ihm ja schon lange vergeben. Da lieb ich ihn viel zu sehr, als wenn ich mit ihm so lange zürnen könnte. Aber ich muß in seiner Gegenwart schauspielern. Er darf sich doch so etwas nicht erlauben. Wie sollte ich denn diese Karte auffassen? Ich kann es ihm verzeihen, da es sicher nur im Übermut geschah. Ich war so geknickt, das ich fast krank wurde. Mag er nun auch ein wenig für seinen Spaß leiden. Er sieht wenigstens, wem er vor sich hat, u. daß er sich bei mir so etwas nicht erlauben darf. Hoffendlich wird nun bald alles wieder gut, und unsere Freundschaft dadurch nur noch fester! Wenn wir uns nur mal aussprechen dürften. O, und dann bleibt er noch ein ganzes Jahr in Torgau als Einjähriger. Wie stolz werde ich dann sein! O, unaussprechlich ist meine Liebe zu ihm! – Herr, schicke was du willst, ein Liebes oder Leides – ich bin vergnügt, daß beides aus deinen Händen quillt. – Amen. –

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