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Friday, 19. April 2024
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2004-05-11 02:33
Kaff weit draußen
Irgendwas ist anders. Sonst stehe ich auf und schleppe mich durch den Tag, froh, wenn ich halbwegs funktioniere... und das keinem auffällt.

Heute war an sich kein guter Tag. Die letzte Nacht hatte ich kaum geschlafen und morgens beim Aufstehen war mir richtig schlecht. Ich dachte nur "Scheiße, und heute muss ich zum Bewerbungsgespräch." Also unter die Dusche gezwungen, fast erfroren im kalten Wasser, schicke Klamotten anziehen und fertig. Die Fahrt dahin war der reinste Terror. Übereifrige Kontrolleure, die einen sogar wecken, nur damit man sein Ticket das zweite Mal vorzeigen darf und sonst die üblichen unerträglichen Gespräche über Big Brother, die neueste Bildschlagzeile und die "superpinke Bluse, die isch jestern jeholt hab, goil, sach isch dir!". Zugfahren und solche Gespräche mitanzuhören hat fast denselben Effekt auf mich wie zu lange auf Talkshows hängen bleiben...

Als ich endlich, nach anderthalb Stunden ankomme und mir schon denke, dass 3 Stunden reine Fahrtzeit zum Job etwas zu viel sind, stehe ich erst mal am absoluten Arsch der Welt. Hier gibt es nicht einmal einen Kiosk - ich verfluche mich, weder Kippen noch eine Cola vorher gekauft zu haben und gehe einfach los, meine letzte Kippe rauchend, auf einem ganz schmalen Weg. Die Autos rasen zentimeternah an mir vorbei und ich bin wirklich dankbar, dass es nicht auch noch regnet.

Das Haus sieht total unscheinbar aus, ich habe sowieso das Gefühl, dass ich total falsch bin. Was soll es denn bitte HIER schon geben??? In meinem Kopf laufen die üblichen Vorstellungen ab, aber bevor der Hirnterror überhand nimmt, spucke ich eben noch mein Kaugummi aus und klingle. Skeptisch gehe ich die Treppen hoch. Nichtssagende Gesichter begrüßen mich, ich warte 10 Minuten und bin dann beim Chef. Der sieht eigentlich ganz nett aus und legt auch direkt los. Ich schaue mir Prospekte an, höre mir seinen Monolog an und denke, wann eigentlich mal der PUnkt kommt, an dem ich etwas von mir geben darf. Zack, da ist sie schon, die Frage: Welche Charaktereigenschaften haben Sie? Tolle Frage, denke ich, sage laut: Ehrlichkeit. Bevor ich überhaupt noch etwas sagen kann, nickt er enthusiastisch - ich komme mir langsam vor wie in einem Verarschungsgag - und legt wieder los. Irgendwas von der Firmengeschichte, tolle Mitarbeiter, super Atmosphäre, Möglichkeiten, etwas mitaufzubauen... Halt! Aufbauen? Oh nee, das bedeutet doch sowieso Akquise, und das mag ich noch weniger als Talkshows. Ich habe Durst. Verstohlen schaue ich mich um, ob da nicht irgendwo etwas herumliegt, das mir mehr über den Chef verrät als seine Worte... ich finde nichts. Hier gibt es weder ein persönliches Foto auf dem Tisch noch irgendetwas, das nicht nach Arbeit aussieht. Irgendwann ist auch mal Schluß, ich habe das Gefühl, ewig dort zu sitzen und bemerke auch schon einen Krampf in meinem Kiefer. Beim Rausgehen drückt mir jemand noch einen Fragebogen in die Hand, den ich ausgefüllt zurückschicken soll.

Draußen atme ich tief durch. Kein Kiosk, kein Zigarettenautomat, dafür leichter Regen. Im Zug lese ich mir den Fragebogen durch und will ihn gleich aus dem Fenster werfen. Insgesamt stehen da 50 Fragen drauf, alles wird gnadenlos durchgefragt: Krankheiten, wo will man sein in 5 Jahren, welche beste/schlechteste Eigenschaft, was kann man der Firma bieten. Der übliche Psychokram, nichtssagend. Na ja, gut, dann ist der Tag eben fürs zugfahren drauf gegangen, auch egal, Hauptsache ich bin gleich zu Hause und komme endlich aus diesen Klamotten raus. Im Raucherabteil finde ich noch einen netten Mann, der mit mir seine Zigaretten und seine Cola teilt.

Zuhause. Endlich. Ich höre laut die Strokes, trinke Tee, entspann mich ein bißchen, rufe meine Mails ab und stelle fest, dass es Menschen gibt, die lieber 5 Mails innerhalb von einer halben Stunde schicken als sich einmal kurz zu überlegen, was es gibt und eine verdammte Mail senden... Die Produzentin, der ich bei ihrem Film helfe, macht langsam Stress, dabei weiß ich überhaupt nicht, was sie will. Sie bleibt gerne allgemein, hat null Plan, was wir jetzt die nächsten Wochen machen wollen und spricht ständig davon, dass wir jetzt mal langsam "richtig anfangen müssen, zu Potte kommen". Ach ja, die Mailbox ist auch voll von ihr, ich muss wohl antworten. Dann noch Mate, der irgendwie in keiner Mail ohne die Worte "Scheiß Gesellschaft" und "Selbstzweifel" auskommt. Wenn jemand etwas will, dann soll er es tun, es versuchen, bis es ihn fast zerreißt, aber sich einfach nur hinzuhocken, sich wegzuschließen und dann noch der Welt die Schuld geben - nee. Das ist mir zu blöd.

Ich schaue mir mit Sammy (mein Freund) "Jin-Roh" an, einen Manga, den ich schon am Wochenende schauen wollte, aber da war mir die Stimmung zu heftig... Diesmal sitze ich davor und werde komplett aufgesogen. Obwohl ich stocknüchtern bin, verstehe ich kaum worum es genau geht, finde aber gerade das ziemlich reizvoll.

Nachdem wir ein paar Videos für Filmfestivals eingetütet haben, setzen wir uns beide, jeder für sich hin und schreiben. Mein Drehbuch wächst, es ist ein richtig gutes Gefühl.

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2004-05-11 02:33