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2020-03-18 13:31
Gewalt und Revolution (2010) - Tag 21

Es wäre falsch, Gandhi als bloßen Vertreter des "zivilen Ungehorsams" zu vereinnahmen, da er das eigentlich nicht im Sinn hatte, sondern seine Idee des satyagraha ("Ergreifen der Wahrheit") größer angelegt war. Auch Gandhi wurde, als Galionsfigur einer politischen Sammlungsbewegung (dem Indian National Congress), Anfang der 1920er Jahre wegen staatsfeindlicher Umtriebe vor Gericht gestellt und zu einer Haftstrafe verurteilt, die er aber aufgrund politischer Entscheidungen nicht zur Gänze abzusitzen hatte. Er hat eine eigene ganzheitliche Weltanschauung entwickelt, die alte Überlieferungen (mitunter auch idealisierte Vorstellungen eines altertümlichen Indien) mit modernen Überzeugungen verbunden hat, und so die Moderaten mit den Extremen in seiner Sammlungsbewegung versöhnt; welchen Rang der Anklang einer Auflösung der Klassengegensätze in einer nationalen Sammlung einnimmt, wäre separat zu erörtern. Er hat ebenso Lager gegründet, in denen die Teilnehmer (Frauen auch durchaus gegen ihren Willen, weil sie von ihren Männern eben mitgeschleift wurden) gemäß seiner Lehre ausgebildet (erzogen) wurden, um den Grundstein für ein neues Indien zu legen; hier wäre der Stellenwert des Anklangs an einen gesunden Volkskörper zu diskutieren. Ja, Gandhi hat sogar selbst einen medienwirksamen Marsch mit einigen Anhängern inszensiert - zwar nicht auf Rom oder Berlin, aber immerhin an eine andere Form der Lebensader des Staates, für den er stritt. Die Apologeten von freier Liebe und freiem Sex wären ob seiner Sexualmoral, gegen die die katholische Lehre wie die reinste Herumhurerei wirkt, heulend weggerannt.

Das heißt nun aber auch nicht, dass Gandhi einfach so in die andere Ecke gestellt werden kann: Sein Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft war in erster Linie kein Kampf für das, was wir unter Menschenrechten verstehen - er hat z.B. das Kastenwesen nicht abgelehnt, sondern nur dessen vermeintlich falsche Umsetzung durch die britische Kolonialmacht -, sondern ein Kampf für ein national geeintes und unabhängiges Indien. Letzten Endes ist Gandhi wohl neben Lenin und Stalin, Mussolini, Hitler, Mustafa Kemal und Franklin D. Roosevelt eine weitere markante Persönlichkeit während des "zweiten dreißigjährigen Krieges", die sich dezidiert vom vermeintlich gescheiterten Liberalismus abgewandt und eine eigene - auf der jeweiligen nationalen Tradition basierende - Weltanschauung propagiert hat.

Aus Hass entspringt Gewalt - deshalb sind Randale keine Form des "zivilen Ungehorsams". Es sind Gewalttaten. Das hat Gandhi betont, als er Anfang der 1920er Jahre nach einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen seinen Anhängern und der Kolonialmacht meinte, the Indian people are not ready to be free because they are not free from anger.

Das führt zur Frage, ob eine angestrebte Ordnung, die als gewaltfrei qualifiziert wird, erstens angestrebt und zweitens erreicht werden kann, wenn man zu den Mitteln greift, die man zu bekämpfen vorgibt. Es verwundert gerade bei den deutschen Studenten der 68er-Generation, wie vollkommen unreflektiert sie ganz unkritisch nicht die Gewalt an und für sich verurteilt haben, sondern nur die Gewalt der anderen, namentlich die Gewalt derjenigen, gegen die sie gekämpft haben. Rudi Dutschke - der sich zwar gegen den RAF-Terror gewandt hat - beschrieb und verurteilte die Gewalt als sözio-ökonomische Tradition und gar Grundlage dieser (unserer?) kapitalistischen Ordnung; eine klare Absage an die Gewalt an sich fehlt allerdings auch bei ihm. So entsteht der Eindruck, Gewalt sei in Ordnung, wenn sie nur von den richtigen Leuten und für den richtigen Zweck eingesetzt würde (die RAF - auch durch ihre Randposition im marxistischen Spektrum - waren demnach wohl zufällig die falschen). Eine solche Ambivalenz zieht sich durch den gesamten marxistisch-antikapitalistischen Diskurs, was ich sehr schade finde. Die Flucht in eine Trennung zwischen normativer und funktionaler Betrachtungsweise ein und desselben Phänomens verspricht hierbei auch keinen Erkenntnisgewinn, sondern verschleiert viel eher noch, dass die Gewalt so - unter einer rein funktionalen Betrachtungsweise - eine gewisse Legitimation erfährt oder zumindest erfahren kann; gerade wenn man das Postulat erhebt, den normativen Aspekt vorerst auszuklammern. Dies evoziert letztendlich eine latente Gewalttätigkeit oder gar Gewaltverherrlichung in den Köpfen.

In diesem Sinne war Gandhi, bei aller Kritik, die man gegen seine Ideenwelt und dessen Umsetzung hervorbringen kann, der konsequenteste der modernen Revolutionäre: Er hatte erkannt, dass die Gewaltlosigkeit, die er anstrebte, nur dann erreicht werden kann, wenn man selbst gänzlich auf Gewalt verzichtet. Eine Schlussfolgerung, die vielen heutigen selbsternannten Revolutionären zu fehlen scheint - gerade den Anhängern eines linken Aktionismus wider die kapitalistisch-ausbeuterische Ordnung des zeitgenössischen Faszismus.

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2020-03-18 13:31